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verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Nr. 46.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Ein Lieutenant a. D.

Roman von Arthur Zapp.
 (6. Fortsetzung.)

In finsterer Entschlossenheit biß Erwin die Zähne zusammen und öffnete mit energischem Griff die Thür zu der sozialdemokratischen Druckerei. Als er sein Verlangen, eine Stelle als Abonnentensammler zu bekommen, stammelnd vorgebracht hatte, fragte ihn der Geschäftsführer, was er „drüben“ gewesen sei.

„Schreiber,“ log Erwin, ohne zu zaudern, im Bann des Selbsterhaltungstriebes.

„Gehören Sie zur Partei?“

Erwin blickte empört auf. „Zur –“

Unter dem forschenden Blick des andern kehrte ihm jedoch schnell die Besinnung zurück und sein „ja“ kam so entschieden, so heftig heraus, daß der Mann von weiteren Fragen abstand. Auf die Anweisungen, die der Geschäftsführer ihm gab, hörte Erwin nur mit halbem Ohr hin, dann wurde ihm ein Pack Probenummern ausgehändigt und zuletzt theilte man ihm die Bedingungen mit: täglich fünfundzwanzig Cent und außerdem von jedem Abonnenten, den er dem Blatt gewann, während der ersten drei Wochen die ganze Gebühr, vorausgesetzt, daß der Neugeworbene so lange aushielt, denn die Leser des „Volksblattes“ abonnierten zum großen Theil nur je auf eine Woche.

Am andern Morgen begann Erwin seine neue Thätigkeit. Er hatte sich am Abend vorher aus der Lektüre der ihm mitgegebenen Zeitungen ein paar Redensarten angeeignet über das „darbende Proletariat“, über „die Tyrannei des ausbeutenden Kapitals“ und über die „Nothwendigkeit des einmüthigen Zusammengehens aller produktiv Arbeitenden“ und gab sie nun bei den von ihm besuchten deutschen Arbeiterfamilien zum besten. Aber er sagte sein Sprüchlein so lau, so rein äußerlich her, sein ganzes Auftreten war so zaghaft und gleichgültig, daß er während der ersten drei Tage auch nicht einen einzigen Abonnenten bekam. Am vierten Tage aber machte ihn der Hunger, die eigene Noth, die Ungewißheit seiner verzweifelten Lage beredt und gab seinen Worten etwas Eindringliches, Packendes, so daß er am Abend glücklich drei neue Leser geworben hatte.

Nun, da erst einmal das Eis gebrochen war, machte er flotte Fortschritte in der Kunst, auf Herz und Geldbeutel der Leute zu wirken und sie seinen Wünschen geneigt zu machen. Er merkte sich, welche Reden die größte Wirkung übten, und gewann mit der Zeit eine förmliche Fertigkeit darin, mit seinem Publikum in dessen derber Sprache zu verkehren. Bald brachte er es im Durchschnitt täglich auf zehn Abonnenten, und wenn auch fast die Hälfte davon nach der ersten Woche wieder absprang, sein Gewinn belief sich doch auf ungefähr acht Dollar die Woche.

Zu diesem äußeren Vortheil gesellte sich noch ein anderes Ergebniß seiner neuen Beschäftigung. Er lernte das Volk kennen bei seiner Arbeit und in seinem Familienleben. Er sah viel Schmutz, viel Widerwärtigkeit, viel Verkommenheit, aber er sah auch Fleiß und Tüchtigkeit, ehrliches ausdauerndes Streben und tapferes Ankämpfen gegen Mißgunst und Härte des Schicksals. Meist waren die Leute, bei denen er vorsprach, freundlich und gesprächig; nur

Charles Gounod.
Nach einer Photographie von van Bosch in Paris.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 773. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_773.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2023)