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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Prinz, dem die väterliche Hand nicht mehr die Zügel straff hielt, begann nun in stürmischem Ungestüm sein Leben zu genießen, und man sah im Lande mit wachsender Angst, wie er seine Kraft in tollen Gelagen verzehrte und die Hoffnungen erschütterte, die man in seine Person gesetzt hatte. Niemand jedoch wagte es, dem „künftigen König“ Vorstellungen zu machen, bis sich Freiherr von Telf dazu entschloß. Ihm lag die Zukunft des Staates mehr am Herzen als seine eigene, und so bat er eines Tages um Audienz bei dem Kronprinzen. Mit ernsten muthigen Worten beschwor er ihn, seine Kraft dem Lande zu erhalten, sich die Liebe des Volkes zu sichern, über das er einst herrschen sollte, der großen Zukunft zu gedenken, die ihm bevorstehe, Der Prinz hörte ihn ruhig an; die offene Sprache verfehlte ihren Eindrnck nicht, ja sie trug die besten Früchte. Aber solche Warner werden immer unangenehm empfunden, und Freiherr von Telf wußte, daß seine Entlassung unfehlbar kommen werde, sobald der Prinz den Thron bestieg.

So sehr ihn diese Vorgänge beschäftigten, so scheute er sich doch, sie mit Dora zu besprechen; er wollte sie nicht vorzeitig beunruhigen. Aber indem er vermied, ihr Interesse für seine Angelegenheiten wachzurufen, beging er dennoch einen Fehler. Sein Vertrauen würde ihr geschmeichelt haben – seine Rücksicht, stets auf ihre Gedanken einzugehen, dankte sie ihm nicht; denn sie wußte, daß er den Kopf voll von anderen Dingen hatte, und war versucht, zu glauben, daß sie ihm überflüssig sei.

Es war mittlerweile Sommer geworden, ein heißer Sommer mit gewitterschweren drückenden Tagen. Dora fühlte, wie die Schwüle ihre innere Unruhe steigerte; heiße sehnsuchtsvolle Wünsche wuchsen in ihr empor wie Giftpflanzen, die nur in Sonnengluth reifen. Eines Tages beschwor sie ihren Mann, mit ihr fortzureisen; sie müsse freie Luft haben, freie Natur. Da er die Stadt unmöglich verlassen konnte und seine Frau blaß und elend fand, so miethete er in der Umgebung der Stadt eine hübsche Villa mit einem Garten. Das Landhaus lag auf einer Anhöhe, wo in fast ländlicher Stille ein weiter Horizont sich den Augen darbot, und war mit dem Wagen in kurzer Fahrt zu erreichen. Er konnte allerdings über Mittag nicht hinausfahren, da er zu viel Zeit verloren hätte, aber zum Abendbrot fand er sich regelmäßig ein.

Für Doras Seelenzustand war aber da draußen zu viel Ruhe, zu viel Einsamkeit. So frisch der Wind auch über die weite Anhöhe wehte, so klar der Horizont vor ihr lag bis an die Alpenkette, für ihr Gemüth war die Beschäftigungslosigkeit, in der sie hier lebten, eine gesteigerte Gefahr, und das stille Hinüberstarren nach den fernen Bergen wiegte sie nur in haltlose Träumerei.

Bei seinem letzten Besuch vor ihrer Uebersiedlung hatte Emil die Worte Doras mit angehört, sie wolle in ihrer Sommerfrische viel lesen. Die Bemerkung war nicht an ihn gerichtet gewesen, aber er hatte sie benutzt, um diensteifrig ein paar poetische Werke in die Villa zu senden samt einigen bescheidenen Zeilen. Mit feiner Berechnung hatte er seine Wahl getroffen und Gottfried von Straßburgs „Tristan und Isolde“ in ihre Hand gelegt. Wenn sie in den berauschend süßen Reimen, die der moderne Uebersetzer dem alten Meister nachgesungen hatte, jene berückende Schilderung der Minne las, so nahm der Held des Gedichtes, fast ohne daß sie sich dessen selber bewußt wurde, die Gestalt und die Züge Emils an; Emil schwebte ihr vor Augen, jung und schön – und ach, sie hatte ihn geliebt!

In den Liedern, die er ihr sonst noch zugesandt hatte, war da und dort ein Vers angestrichen, und immer waren es Worte, die sie auf sich beziehen mußte. Es lag ein tückischer Zauber in dem Gedanken, daß seine Augen auf demselben Blatt geruht, daß sein Herz höher geschlagen hatte bei demselben Bilde, das nun auch sie ergriff. Es schien zu ihr zu reden in schmeichelnden poetischen Lauten, und unablässig schwirrten ihr die Zeilen durch den Kopf:

„Unser goldenes Jugendglück
Ging auf immer in Scherben.
Laß mich flieh’n in die Fremde weit!
Denn die Geister der alten Zeit
Müßten uns beide verderben.“

Das Buch sank ihr dann wohl in den Schoß, und wie in ihrer Mädchenzeit begann ihre Phantasie ihr endlose Märchen zu erzählen; aber die Bilder die sie jetzt schuf, waren glühender, gefährlicher als ehedem. Sie wußte, daß das alles schwärmerische Unmöglichkeiten waren, und hielt es für kein Unrecht, sich dem Hang zum Fabulieren hinzugeben. Aber dabei sah sie Emils Gestalt bald nicht mehr im nüchternen Tageslicht, sondern im unsicheren verklärenden Mondenschein; ihre Erkenntniß seines Charakters verlor sich mehr und mehr in trügerischen Schleiern. Sie glaubte allmählich an seine Leidenschaft und ihre Phantasie war unermüdlich, allerlei entschuldigende Gründe dafür zu suchen, daß er sie dennoch aufgegeben hatte.

Wenn ihr Gatte des Abends kam, dann wichen die Gespenster, dann ward es ruhig in ihr. Aber er hätte fragen müssen, wie sie ihre Tage verbringe, hätte ihr Denken an sich reißen, ihr Gemüth beschäftigen sollen. Müde jedoch, wie er war, fühlte er sich glücklich, wenn er ihre Hand in der seinigen halten und schweigend ausruhen durfte an ihrer Seite. Im wonnigen Bewußtsein sicheren Besitzes hatte er keine Ahnung davon, welcher Sturm der Friedlosigkeit ihre junge heiße Seele durchtobe.

Eines Abends stand Dora, schon lange ihren Gatten erwartend, auf der Veranda und blickte gedankenverloren auf die sprühenden farbig glitzernden Tropfen des Springbrunnens. Ein letzter glühender Wiederschein der Sonne übergoß noch die Höhe mit einem Meer von Glanz; dann verzitterte das grelle Licht, fortfluthend, wie von bläulichen Schatten aufgesogen. Dora seufzte plötzlich tief auf, sie wußte selber kaum, warum. Ein Gefährt kam durch die stille Straße gerollt; sie hob wie erwachend den Kopf. Aber der Wagen fuhr nicht wie sonst, wenn ihr Gatte heimkehrte, in den Hof, er hielt vor dem Gartenthor. An der Hausthür klaug die Glocke, und gleich darauf meldete die Dienerin: „Herr Assessor Wienburg.“

Doras Hand klammerte sich krampfhaft fest an das Geländer, an dem sie lehnte. Ruhe, Ruhe! Sie preßte die Linke auf ihr toll klopfendes Herz. Welcher Dämon führte ihn in ihre Nähe, jetzt, gerade jetzt?

Er trat in das Zimmer hinter ihr und verneigte sich tief, denn sie hatte den Kopf ihm zugewandt und blickte ihm durch die offene Thüre zur Veranda entgegen, aber ohne sich von der Stelle zu bewegen.

Der Assessor näherte sich ihr mit ein paar schnellen Schritten. „Ich bitte tausendmal um Verzeihung, daß ich zu so später Stunde zu stören wage. Excellenz hat mich beauftragt – “

„Ist meinem Gatten etwas zugestoßen?“ rief Dora rasch. Sie hatte im ersten Augenblick nur über Emils Kommen gezittert; nun erst besann sie sich.

„Nein, gnädige Frau! Excellenz sandte mich nur, damit Sie sich nicht beunruhigen. Es findet eine geheime Ministersitzung statt, die wohl noch mehrere Stunden dauern wird. Excellenz kann also nicht zum Abendbrot erscheinen. Ein Kanzleibote sollte herausgeschickt werden; aber Seine Excellenz war so liebenswürdig, auf meine Bitte hin meine Dienste in Anspruch zu nehmen.“

Er war vor sie hingetreten und stand ihr nun erwartungsvoll gegenüber.

„Ich danke Ihnen,“ sagte Dora, ohne ihn anzusehen, „und bedauere nur, daß Sie Ihre Zeit für mich opferten und diese einförmige Fahrt durch die Vorstadt zweimal ertragen müssen.“

„O, die Fahrt war ein Genuß, wie er mir nur selten zu theil wird,“ betheuerte er mit einem leisen erregten Schwingen in der Stimme, das sie seltsam durchschauerte. „Ich bin ja dem Glanz, der Sonne entgegengeeilt. Diese Höhe hier lag umflossen von Licht vor meinen Augen. Und dann – ich habe kein Heim, nach dem ich verlange. Ich werde auch nicht mit Ungeduld erwartet.“

In seiner Stimme zitterte eine vorwurfsvolle Klage. Sie hatte Mühe, das Gespräch fortzusetzen, und eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Aber dieses Schweigen war unerträglich. Sie erinnerte sich, gehört zu haben, daß seine Mutter die Präsidentin Wienburg, vor kurzem vom Schlage getroffen worden sei, und erkundigte sich nach ihrem Befinden.

Er seufzte. „Sie lebt! Aber welch ein Leben ist das – geistig und körperlich gelähmt!“

„Wie traurig!“

„Ja, es ist traurig. Was würde ich nicht thun, um meine Mutter zu retten! Ihr Wunsch war stets mein oberstes Gesetz. Sie durfte mein Lebensglück von mir fordern, und ich gab es ihr hin. Und nun stehe ich vor einer entschwindenden Gestalt, die ich nicht wiedererkenne, ohne jede Möglichkeit Hilfe zu bringen.“

Er sprach so ernst bewegt, wie sie ihn nie hatte reden hören. Sie mußte diesem Herzenston glauben und war überzeugt, jetzt offenbarte er ihr jene Seele, die man der Welt gegenüber nicht zur Schau trägt, die sich nur in seltenen Augenblicken auf die Lippen drängt. Das große Räthsel, warum er ihr entsagt hatte,

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