Seite:Die Gartenlaube (1893) 761.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



Die Augen starr auf Klara und ihren Bruder gerichtet, bei dem Gedanken, daß sie ihn bemerken könnten, erschauernd und doch wie gebannt von ihrer Gegenwart, vergaß er alles, was sonst um ihn vorging. Und nun, nun schienen auch sie ihn zu erkennen, ihm schien es, als ob ein Ausdruck höhnischer Verachtung sich in den Mienen der beiden male. Mit hastigem Ruck drehte er sich um und eilte stürmischen Schrittes dem Ausgang zu.

Am Schenktisch setzte er die gefüllten Gläser so heftig nieder, daß sie fast in Scherben gegangen wären, und ohne auf den verwunderten Ausruf des Aufwärters zu hören, riß er Hut und Ueberzieher vom Nagel und stürmte davon. Schweißtriefend langte er in seinem Zimmerchen an, wo er sich erschöpft aufs Bett warf. Und so sehr er sich auch wehrte, so sehr er sich selbst unmännlich, kindisch schalt, er konnte es nicht hindern, daß ihm die Thränen über die Wangen liefen und ein heftiges Schluchzen ihn überfiel. Trotz aller Erfahrungen, trotz aller guten Lehren Schuckmanns fühlte er sich so beschämt, gedemüthigt, daß er sich am liebsten vor sich selber versteckt hätte. Er – er war jetzt der Besiegte, der Unterliegende, und jener, den er einst mit Hohn und Schimpf von sich gewiesen, über den er sich so hoch erhaben gedünkt hatte, stand über ihm und blickte seinerseits auf ihn und seinen Beruf mit Geringschätzung herab. Im Kampf ums Dasein besaß jener ja die stärkeren Waffen.

Erst allmählich, als er sich sagte, daß in der Riesenstadt eine zweite Begegnung leicht zu vermeiden sei, verlor seine Empfindung etwas von ihrem bitteren Stachel. Aber nie mehr, das stand unerschütterlich bei ihm fest, nie mehr würde er in den „Atlantic Garden“ zurückkehren, zu diesem Beruf, in dem er keinen Augenblick vor den demüthigendsten Begegnungen sicher war. Eher wollte er alles andere versuchen und die schwerste Arbeit auf sich nehmen, ja lieber Noth und Hunger leiden.

So fing denn das sauere Suchen nach Arbeit wieder für ihn an. Es war an einem der nächsten Tage, als er auf einem solchen Gange in das Zeitungsviertel New Yorks am Südende der Stadt kam. Neugierig und bewundernd schauten seine Augen an den thurmhohen Palästen hinauf, in denen die großen Zeitungen der nordamerikanischen Presse ihr Heim hatten. Da traf beim Weiterschlendern sein Blick auf ein bescheidenes Schild, das über dem Eingang zu einem kleinen Geschäftsraum befestigt war und die Inschrift trug: „New Yorker Volksblatt, Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes.“ Er erinnerte sich, im „Atlantic Garden“ einmal von diesem jungen Zeitungsunternehmen gehört zu haben, das Arbeiter begründet und zum leitenden Organ der deutsch-amerikanischen Sozialdemokratie gemacht hatten. Neben dem Schild war eine Tafel angebracht, auf der zu lesen stand: „Fleißige und geschickte Abonnentensammler werden sogleich verlangt. Näheres in der Druckerei.“

Es gab ihm einen ordentlichen Ruck. Abonnentensammler für eine deutsche Zeitung – da würde ihm seine Unkenntniß der Landessprache nicht im Wege sein, da hatte er es ja selbstverständlich nur mit Landsleuten zu thun. Und doch – Leser werben für ein sozialdemokratisches Blatt? Unmöglich! Aber wenn er nun wirklich der sozialdemokratischen Partei ein paar neue Anhänger zuführte, würde die Welt darüber zusammenbrechen? Lächerlich! Wenn er’s nicht that, so fanden sich andere genug dazu. Und wenn er sich nun zu dem – zu dem entschloß, was seiner ganzen Vergangenheit schroff ins Gesicht schlug, wenn er sich dazu herbeiließ, er, der ehemalige Offizier, von der Sozialdemokratie Brot zu nehmen, that er es etwa zum Besten der Partei? Unsinn! Er that es für sich, um nicht zu verhungern, weil er keine andere Wahl hatte. Wenn er nicht zugriff und nahm, was sich hier bot, so blieb ihm wahrhaftig nichts übrig, als sich an einer Ecke aufzustellen und vor jedem Vorübergehenden bittend den Hut zu ziehen. Besser aber als betteln war diese Arbeit immer noch!

(Fortsetzung folgt.)


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 761. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_761.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2023)