Seite:Die Gartenlaube (1893) 760.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


ein so ungekünsteltes Wesen, daß Erwin sich schon in der ersten Stunde in der Familie heimisch fühlte. Er plauderte mit der Frau von allem Möglichen: von ihrer Vergangenheit, von ihrem Kinde, ihrer kleinen Wirthschaft, ja von sich und seinem jetzigen Berufe ohne jede Scheu, als wären sie längst die besten Freunde. Dabei war es ihm wahrhaft rührend, zu sehen, mit welcher Zärtlichkeit sie um ihren Gatten bemüht war, wie sie ihm die Wünsche, noch ehe er sie äußerte, von den Mienen absah, und mit welcher Zartheit auf der andern Seite ihr Gatte gegen sie verfuhr. Zwischen beiden der muntere, gut erzogene kleine Bursche – es war ein so anheimelndes Bild schlichten Familienglückes, wie Erwin es noch nie in seinem Leben gefunden hatte.

Um drei Uhr brach Schuckmann auf, denn er hatte noch Dienst. Erwin begleitete ihn ein Stück Weges. Bevor sie sich trennten, sagte Schuckmann, dem Freund zutraulich die Hand auf die Schulter legend: „Buschenhagen, Sie haben nun gesehen, wie es bei mir ausschaut. Wenn es Ihnen danach ums Herz ist, so kommen Sie wieder! Einer besonderen Einladung bedarf es nicht mehr, Sie sollen uns immer willkommen sein. Umstände freilich machen wir nicht, Sie müssen schon mit dem fürlieb nehmen, was Sie gerade antreffen.“

Und nachdem ihm Erwin herzlich gedankt hatte, fügte er mit listigem Augenzwinkern hinzu: „Buschenhagen, bin ich nicht ein armer bedauernswerther Kerl?“

Erwin wurde ganz roth vor Eifer. „Der Teufel soll mich holen, Schuckmann, wenn ich Sie nicht beneide. Sie sind ein glücklicher Mann!“

Und das kam aus ehrlichem Herzen, unter der Nachwirkung der eben verlebten friedlichen Stunden.

„Nicht wahr?“ schmunzelte der andere. „Mit einem solchen Frauchen und einem so herzigen Burschen von Sohn!“

„Präsident in spe!“

Sie lachten beide laut auf, schüttelten einander die Hände und trennten sich,




8.

Buschenhagen lebte sich mehr und mehr in seinen neuen Beruf ein, dem er bald mit wirklichem Eifer nachging. Die Sucht, ein hübsches Stück Geld zu verdienen, die hier förmlich in der Luft lag, packte auch ihn und trieb ihn an, seine ganze Gewandtheit aufzubieten, um allabendlich so viele Gläser Bier als irgend möglich abzusetzen. Zuweilen erschien Schuckmann mit Frau und Kind in einer freien Abendstunde und Erwin legte dann einfach den Kellnerschurz ab, setzte sich zu ihnen und spielte auf eine Stunde den Gast.

Mehrere Monate bekleidete er schon seine Stelle im „Atlantic Garden“. Die kleinen Demüthigungen, welche sein Los mit sich brachte, empfand er kaum noch, dachte auch vorläufig gar nicht daran, seinen Posten aufzugeben, sondern wollte ihn so lange festhalten, bis er des Englischen mächtig geworden sein würde. Dann standen ihm alle möglichen Wege offen, aber ohne die Kenntniß der Landessprache – das hatte ihm Schuckmann eindringlich vorgehalten – war nichts Ordentliches anzufangen. Ohne Englisch war man immer dem Zufall, der Noth preisgegeben.

Da hatte er eines Tages eine Begegnung, die alle seine Pläne über den Haufen warf und mit einem Schlage sein mühsam errungenes Gleichgewicht wieder vernichtete. Eines Abends, er kam eben mit dem gewohnten Ruf: „Lagerbier! Lagerbier!“ den Mittelgang des Riesenlokals herauf, sah er plötzlich kaum zwanzig Schritt entfernt an einem Tisch zwei Personen sitzen, deren unvermutheter Anblick ihn so heftig zusammenfahren ließ, daß er alle Kraft zusammennehmen mußte, um nicht die Gläser, die er trug, zu Boden fallen zu lassen. Auf den ersten Blick erkannte er ihn, seinen Todfeind, den Deserteur, der also glücklich nach Amerika entkommen war, und neben ihm seine Schwester Klara. Er stand einen Augenblick wie angewurzelt, wie gelähmt vor Schrecken und achtete nicht darauf, daß ein paar Gäste am nächsten Tisch ihm schrieen und winkten und dann ärgerlich eine Verwünschung zuriefen, als er ihrem Begehren nicht nachkam.


Photographie im Verlage von Braun, Clément u. Cie. in Dornach.
Ein Volksgericht im Mittelalter.
Nach einem Gemälde von J. Garnier.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 760. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_760.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2023)