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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

eigenes Gefühl, ein Gefühl der Sicherheit, der stillen Zufriedenheit, das unendlich mehr werth ist als all das Zeug von ehemals.“

Erwin wußte nichts darauf zu erwidern. Er konnte sich nur immer von neuem verwundern über den Schuckmann von heute, der einen so schroffen Gegensatz zu dem Schuckmann von einst bildete. Aber als jetzt der neben ihm Schreitende weiter erzählte von Frau und Kind, von seiner stillen Häuslichkeit, seinem Berufe, seinen Hoffnungen und Zukunftsträumen, da wurde auch ihm ganz warm ums Herz und eine ehrliche, tiefe Achtung stieg in ihm auf, grundverschieden von jener lauten Bewunderung, die er und die jüngeren Kameraden einst den Thaten des „tollen Schuckmann“ gezollt hatten.

Als sie einander „Gute Nacht“ sagten, fragte Schuckmann plötzlich: „Sind Sie morgen mittag frei?“

„Ja, bis fünf Uhr!“

„So bitte ich Sie, morgen zum Mittagessen mein Gast zu sein. Sie müssen meine Frau kennenlernen und meinen Jungen. Aber wenn ich bitten darf, keine zu großen Erwartungen, was unseren Tisch betrifft! Wir essen einfach: Suppe und Sonntagsbraten – morgen haben wir Kalbsbraten. Das ist etwas Rares in Amerika. Ich habe ihn selbst eingekauft, und daß er gut ist, dafür stehe ich Ihnen. Ich rechne also auf Sie. Gute Nacht, schlafen Sie wohl!“

Obgleich Erwin eigentlich recht müde war, als er endlich sein Kosthaus erreicht hatte, wälzte er sich doch noch eine ganze Weile schlaflos in seinem Bett umher. Seine Seele war zu sehr erfüllt von all den neuen Eindrücken, die ihm die letzten Stunden gebracht hatten. Das, was er an dem Stammtisch in Peter Schwabs Bierlokal gesehen und gehört hatte, war so seltsam, daß es ihm jetzt wie ein phantastischer Traum vorkam. Ein Freiherr als Bäckergeselle, ein Graf als Oberkellner, ein Baron als Stadtreisender und vor allem Schuckmann, der tolle Schuckmann, als Pferdebahnschaffner, als Gatte und Vater, als sparsames Familienhaupt, das den Markt aufsuchte und Fleisch einkaufte! Das alles war wie ein Stück aus einer verzauberten Welt.


Es war zwölf Uhr mittags, als Erwin der Einladung Schuckmanns folgte. Dieser wohnte in der vierzehnten Straße in einer Miethskaserne, die eine Unmenge kleiner Wohnungen enthielt.

Auf sein Klopfen an der Thür, die ihm sein ehemaliger Kamerad gestern noch genau bezeichnet hatte, öffnete eine schmächtige kleine Frau. Sie blickte den Gast einen Augenblick prüfend an, während dieser höflich seinen Hnt zog; dann lächelte sie ihm freundlich zu und sagte: „Sie sind gewiß Johnnys Freund. Nicht?“

Und als Erwin sich verneigte, forderte sie ihn auf, näherzutreten. Er folgte der Voranschreitenden, die ihn durch einen kleinen halbdunklen Raum geleitete, der nur durch eine schmale Oeffnung Licht erhielt und durch einen eisernen Kochofen sich als Küche auswies. Frischer Bratengeruch erfüllte den ganzen Verschlag, dessen Möbel nur aus einem Küchentisch, einem alten schmalen Geschirrschrank und einem Schemel bestanden. Durch eine Glasthür gelangten sie ins Wohnzimmer, dessen zwei Fenster nach dem Hof hinausgingen.

Erwin stand überrascht einen Augenblick an der Thür still. So einfach, ja ärmlich hatte er sich Schuckmanns Wohnung doch nicht vorgestellt. An der einen Wand ein Roßhaarsofa, davor ein runder braun angestrichener Tisch; an der andern ein großes und ein kleines Bett; sonst nur noch ein paar Holzstühle und ein Schaukelstuhl, daneben eine alte Kommode. Der einzige „Luxus“ war der Teppich, der über den ganzen Fußboben ausgespannt war.

„Bitte, legen Sie ab!“ Die junge Frau sagte es mit einer freundlichen Handbewegung; Erwin gehorchte mechanisch, sehr befangen, und ließ sich dann auf ihre Einladung hin auf dem Sofa nieder. Er war in wirklicher Verlegenheit, womit er die Unterhaltung beginnen sollte. Er, der zu Hause den Damen seiner Kreise gegenüber nie um einen Gesprächsstoff verlegen gewesen war, wußte nicht, was er zu dieser schlichten Frau sprechen sollte. „Mister Schuckmann?“ stotterte er endlich. Sie kam ihm zu Hilfe. „Mein Mann kommt gleich zurück. Er ist nur ’mal in das Restaurant nebenan gegangen.“

Sie hatte kanm ausgesprochen als man auch schon das Geräusch der geöffneten Flurthür hörte; eine Sekunde später trat Schuckmann ein. Erwin, der sich erhoben hatte, mußte wohl ein sehr verblüfftes Gesicht machen, denn der andere lachte laut auf. Es war aber auch ein drolliger Anblick, den der „tolle“ Schuckmann bot. Auf dem Kopfe saß ihm ein breitrandiger Schlapphut; einen Rock trug er nicht, sondern nur eine dicke gestrickte Weste über dem Hemd. Auf seinem linken Arm hockte ein kleiner, lustig dreinblickender Knabe und in der rechten Hand hielt er einen mit Bier gefüllten Krug.

Nachdem Schuckmann seine Hände frei gemacht hatte, begrüßte er den Gast herzlich.

„Liebe Libby,“ sagte er dann zu seiner Frau, „hier mein Freund Buschenhagen von dem ich Dir heute früh erzählt habe, ehemals preußischer Lieutenant, zur Zeit Kellner im ,Atlantic Garden‘.“

Erwin konnte ein Erröthen nicht unterdrücken. Schuckmann bemerkte es und klopfte ihm auf die Schulter. „Ich glaube gar –“ sagte er mit heiterem Vorwurf. „Das müssen Sie sich hier abgewöhnen! Kellner oder Minister, ganz gleich, wenn man nur sonst ein ehrenhafter Kerl ist. Meine Libby hat in dieser Hinsicht gar keine Vorurtheile. Als wir uns kennenlernten, ging ich mit Insektenpulver hausieren.“

Erwiu hatte erst jetzt Gelegenheit, die Frau seines Freundes genauer zu betrachten. Ihr Gesicht war unbedeutend, aber aus ihren blauen Augen strahlte so viel Herzensgüte, und als sie jetzt ermunternd zu ihm herüberblickte, lag ein so liebenswürdiges Lächeln auf ihren Zügen, daß mit einem Male seine Befangenheit wich und einem warmen sympathischen Gefühl für die kleine Frau Platz machte. Während sie nun in der Küche nebenan verschwand, um nach dem Braten zu sehen, nahm Schuckmann den Knaben, den er bei der Begrüßung des Freundes auf den Boden gestellt hatte, wieder auf den Arm und trat mit ihm zu Erwin hin. Der Kleine wandte sich etwas scheu von dem fremden Gesicht ab und umklammerte mit beiden Händchen den Hals des Vaters.

„Na, na – nicht fürchten, Henry,“ mahnte dieser und bemerkte dann, zu dem Freunde gewandt: „Er sieht so selten ein fremdes Gesicht, wir leben ganz für uns. Hallo, Henry, gieb dem Onkel eine Hand – na wird’s?“

Der Junge wandte sich zögernd herum und reichte vorsichtig, mit ängsttichem Blick Erwin die kleine dicke Rechte.

Schuckmann sah ihm dabei mit vergnügtem Schmunzeln zu, strich ihm über den Blondkopf und küßte ihn zärtlich auf den Mund.

„Ich sage Ihnen, Buschenhagen, so sich selbst verjüngt vor sich zu sehen, darüber geht nichts!“ Er hob den Kleinen der aufjauchzte und lustig strampelte, mit ausgestreckten Armen in die Höhe und betrachtete ihn mit stolzen Blicken. „Ein strammer Bengel, nicht?“ sagte er über die Schulter zu Erwin. „Und klug! Nein wirklich, es ist nicht bloß väterliche Eitelkeit, die aus mir spricht.“

Erwin wehrte lächend ab.

„Sie glauben es nicht? So passen Sie einmal auf, Buschenhagen!“ fuhr der glückliche Vater mit ehrlichem Eifer fort. „Henry, mein Junge, zeige dem Onkel ’mal, was Du gelernt hast! Zähle – zuerst deutsch!“

Der Knabe machte ein ernstes Gesicht und begann langsam, stockend: „Eins, zwei, drei vier, fünf –“

„Nun englisch!“ gebot Schuckmann, dessen Gesicht bei jeder neuen Zahl freudiger und stolzer aufleuchtete.

„One, two, three, four, five –“ zählte Henry mit wichtiger Miene.

„Sehen Sie, Buschenhagen,“ fing Schuckmann von neuem an, während sie sich niederließen – er mit dem Knaben auf dem Schaukelstuhl, sein Gast auf dem Sofa – „sehen Sie, für meine Person habe ich keinen Ehrgeiz mehr. Wenn ich nur das verdiene, was die Meinen brauchen, und allenfalls noch ein bißchen mehr, so bin ich zufrieden. Bloß was meinen Jungen betrifft – aus dem soll einmal etwas werden. Das ist meine Lebensaufgabe, aus Henry einen tüchtigen Menschen zu machen. Und der Junge kann alles werden – Minister, Präsident, was man will. Aber auf diese Zukunft müssen wir gleich ’mal anstoßen!“

Er erhob sich lebhaft, holte drei Gläser von der Kommode, füllte sie aus dem Krug, in dem er das Bier gebracht hatte, und rief nach der Küche hinaus: „Libby! Bitte, komm’ doch einen Augenblick!“ Und zu Erwin gewandt, fügte er erklärend hinzu: „‚Libby‘ – das ist eine Abkürzung von ‚Liberty‘: Freiheit. Sie ist nämlich am vierten Juli geboren, am Tag der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Ein drolliger Name, was? Ja, in diesem Punkt leisten die Amerikaner Unglaubliches.“

Indes erschien die Gerufene und alle drei stießen lustig an auf das Wohl des kleinen Zukunftshelden.

Zehn Minuten später war der Tisch gedeckt. Der kleinen Frau ging alles so flink von der Hand, sie zeigte in jeder Bewegung eine so natürliche Anmuth, in ihrem ganzen Gebahren

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