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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Hier stelle ich Dir meinen jungen Hilfsarbeiter und Freund vor, Herrn Assessor Wienburg – gewissermaßen meine rechte Hand!“

Mit ganz besonderem Wohlwollen hingen die Augen des Freiherrn an den hübschen Zügen des jungen Mannes, der sich mit seinem gewinnendsten Lächeln verneigte.

„Ich habe bereits das Vergnügen gehabt,“ erwiderte Dora. Emil stand ehrerbietig vor ihr und brachte in den glattesten Worten seine Glückwünsche dar. Und nun war sie eingeschüchtert und verwirrt, nicht er; sie hatte Mühe, Gelassenheit zu zeigen. Den ersehnten stolzen Triumph über ihn empfand sie nicht.

Während der Minister sich einem neuen Gaste zuwandte, hoben sich Emils Augen plötzlich mit beredter Sprache zu Dora empor. Sie drückten tiefe Trauer aus, einen entsagungsvollen Schmerz, einen stummen Vorwurf, sie schienen zu sagen: „Ich habe mich geopfert für Dich! War es nicht gut für Dein Glück? Bist Du mir nun dankbar? Ich habe Dich geliebt und Du hast einen anderen erwählt!“

In der That hatte Emil in dieser Minute gar nicht die Empfindung, als habe er an Dora ein Unrecht verübt. Im Gegentheil. Da für seine Begriffe eine hohe beneidete Stellung das höchste Erdenglück bedeutete, so erschien er sich wirklich wie ein Großmüthiger, der mit Rücksicht auf das Glück des geliebten Mädchens eine jugendliche Liebesthorheit in der selbstlosesten Weise abgebrochen hatte. Und Doras Ehe war ihm ein Beweis, daß auch ihr jenes Gefühl nicht besonders tief gegangen, daß sie weltklug und berechnend und ehrgeizig sei wie er selbst. So war er kühn genug, zu hoffen, daß die einstige Neigung der Excellenz ihm für alle Zukunft ihr Wohlwollen sichern würde, worauf er um so mehr Gewicht legte, als er überzeugt war, die schöne junge Frau werde über ihren Gatten eine immer größere Herrschaft gewinnen.

Dora war bleich geworden in seiner Nähe. Sie hatte seit jener Trennung im Gewittersturm sein Gesicht nicht mehr gesehen und hatte geglaubt, es habe jede Macht über sie verloren, ihre Liebe sei völlig überwunden. Und nun, wie sie diese Züge, diese Augen wiedersah, da schien alles zu verblassen und zu verschwinden, was seit jenem abendlichen Heimweg im Lindenduft geschehen war. Sie fühlte deutlich das wunderbare Entzücken wieder, mit dem sie eine Sekunde lang an seiner Brust geruht hatte, und der Rausch, den sein Kuß in ihr geweckt hatte, erfaßte sie aufs neue, nur mit heißerer Sehnsucht. Sie sagte sich, daß ihre Gedanken Sünde seien, ein Verbrechen gegen das Vertrauen ihres Gatten – umsonst, die Erinnerung wich nicht. Sie mußte ihre Pflichten als Wirthin erfüllen, mußte sich verneigen und lächeln und freundlich zuhören – doch beständig verfolgte sie der angstvolle Wunsch, der aus der Tiefe ihres Herzens empordrang: „O, müßte ich ihn niemals wiedersehen! Wie kann ich ihn für immer aus meiner Nähe entfernen?“

Emil saß am untersten Ende der langen Tafel, aber sie begegnete doch immer wieder seinen Augen, in denen ein Ausdruck entsagungsvoller Bewunderung lag, diesen dämonisch bestrickenden Augen, die sie glauben machen wollten, daß er sie geliebt habe, immer noch liebe. Unter allen Stimmen hörte sie die seinige heraus.

Wie eine Erlösung dünkte es sie, als die Cigarren gebracht wurden und sie sich zurückziehen durfte. In Gewissensqualen saß sie dann in ihrem Zimmer, drückte die Hände an die hämmernden Schläfen und fragte sich immer wieder: „Durfte ich denn Bernhards Frau werden, wenn dieser andere einen solchen Sturm in mir wachzurufen vermag? Und doch – es war keine Lüge, wenn ich sagte, mein Herz sei frei, Ich kannte es ja selbst nicht! Aber ich will nicht, will nicht an ihn denken!“ Trotzdem schien sich der Sturm nicht so rasch zu beruhigen, die fremde Gewalt in ihr nicht so rasch zu weichen, denn sie murmelte ein paarmal düster vor sich hin: „Er hat Dich ja nicht gewollt, hat Dich verschmäht! Erinnere Dich doch dieser Schmach!“

Ihr Gatte war in sehr vergnügter Stimmung, als er eine Stunde später bei ihr eintrat. Er zog sich einen Sessel an das kleine Sofa heran, auf dem sie saß, und legte seinen Arm um ihren Nacken.

„Solche Sonntagsruhe mit einem lieben Gesicht in der Nähe, das ist schön,“ sagte er mit einem warmen Lächeln. „Früher, wenn es so still und einsam in meiner Behausung war, ging ich oft auch an diesem Tage an die Arbeit, nur um nicht melancholisch zu werden. Du lehrst mich den Feiertag heiligen, Dora.“

Sie plauderten eine Weile von den verschiedenen Herren, die ihre Gäste gewesen waren. Der Minister wußte von jedem ein lebendiges Bild zu entwerfen; er war ein Menschenkenner, wenn ihm auch seine Güte hier und da einen Streich spielte.

Auch Dora fand, es sei ein trauliches Zusammensitzen in dieser späten Nachmittagsstunde, während Glockengeläute zum offenen Fenster hereinklang und aus der Ferne zuweilen das Geräusch der Straßen herüberschwirrte. Aber ihr Behagen wollte nicht standhalten. Wie gut alles wäre, dachte sie, wie friedlich, wenn nur jener Eine ihr nie wieder vor die Augen käme!

Sich zusammennehmend, fragte sie plötzlich: „Du hältst große Stücke auf den Assessor Wienburg?“

„O ja! Er ist ein gewandter Mensch, Vielleicht gefällt es mir auch, daß er mir so diensteifrig ergeben ist, daß er eine so feine Höflichkeit besitzt. Ich verachte die plumpe Devotion, der ich nur allzu oft begegne. Aber kein Mensch ist unzugänglich für eine liebenswürdige Unterordnung, die ja in diesem Falle von seiten des jüngeren Mannes auch nichts Unnatürliches hat.“

„Und der Assessor wird oft in unser Haus kommen?“

„Bisher habe ich nur ab und zu einige Herren bei mir gesehen, nicht öfter, als es in meiner Stellung dringend geboten war. Doch jetzt, da dies Haus eine so junge und hübsche Herrin besitzt, werden wir ja wohl geselliger leben müssen, und der Assessor ist jedenfalls eine gute Figur für einen Salon; außerdem wird er als Ordner bei Deinen Festen seinesgleichen suchen, wenn Du ihn als Hilfsarbeiter heranziehen willst. Er ist Dir doch nicht unangenehm?“

„Nein,“ erwiderte sie leise. Sie kämpfte mit sich. „Wahrheit, Wahrheit ist das Einzige, das Dich retten kann!“ rief es in ihr. Sie senkte die Augen auf die halb verwelkten Rosen, die sie noch am Kleide stecken hatte, und zupfte in nervöser Unruhe an den Blättern. Aber ihre Stimme beherrschte sie so gut wie möglich, als sie begann: „Ich will Dir nur gestehen, Bernhard: Herr Wienburg hat mir in meiner Mädchenzeit – erst letzten Sommer war’s – sehr den Hof gemacht. Glaubst Du nicht, daß man es seltsam finden, daß man sich Bemerkungen erlauben wird, wenn er öfter zu uns kommt?“

Der Minister war aufgestanden. Doras Worte berührten ihn peinlich. Wer ein Weib mit ganzer Seele liebt, den verletzt jeder Blick, den ein anderer auf sie geworfen hat. Aber nichts dünkte Bernhard lächerlicher und sinnloser als die Rolle des eifersüchtigen Gatten. Dora war sein. Er hätte sich jeden Zweifels an ihr geschämt und es wäre ihm ihrer und seiner selbst unwürdig erschienen, mit ihrer Vergangenheit zu eifern, auf ihre Tänzer zu grollen und vor jedem jungen Menschen zu zittern, der sich einst in ihre Nähe gedrängt hatte. So wurde es ihm nicht schwer, ihre Bedenken leicht zu nehmen.

„Liebes Kind, ich glaube, der Assessor macht allen hübschen Mädchen und Frauen den Hof. Man steht das bei ihm gar nicht so ernst an, das ist so seine Art! Seit einem Jahre habe ich schon ein halbes Dutzend nennen hören, die er besonders ausgezeichnet haben soll.“

Damit war Bernhard seiner augenblicklichen Verstimmung auch schon Herr geworden, und es dauerte nicht lange, so hatte er die Worte seiner Frau ganz vergessen. Er mußte so viel Ernstes in seinem Amt bedenken!

Aber Dora hatte keine wichtige Arbeit; sie war viel allein und grübelte beständig über ihre Empfindungen. Es verletzte sie, daß ihr Gatte ihr Geständniß so leicht nahm. Sie hatte Schutz bei ihm gesucht, hatte gehofft, daß er ihr Emil fernhalten werde. Warum wollte er nicht verstehen, daß es sich nicht um ein flüchtiges Spiel, sondern um etwas weit Ernsteres gehandelt hatte? Oder legten die Männer überhaupt kein so großes Gewicht auf Herzensregungen? War es thöricht von ihr, sich zu ängstigen und zu quälen wegen einer unabweisbaren Erinnerung? Jedenfalls wollte sie dem Assessor mit eisiger, unnahbarer Kälte begegnen. Wenn sie das tolle Herzklopfen, das sie in seiner Nähe befiel, verbarg, wenn kein Athemzug, keine Bewegung, kein Blick verrieth, was in ihr vorging, dann war diese Schwäche ein Unglück, das sie ganz allein zu tragen hatte, das niemand in seinen Rechten verletzte.

(Fortsetzung folgt.)


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