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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

im Werthe von vielleicht 600 Millionen Mark erzeugt; das sind allein 4 bis 5 Milliarden Mark Jahreseinkommen in nur 3 der wichtigeren landwirthschaftlichen Waren. Diese Mengen allein übertreffen schon den Werth der ganzen auswärtigen Handelsbewegung. Nun ist es zweifellos, daß auf dem Gebiete der Landwirthschaft, bei Anwendung genau derselben menschlichen Arbeitskraft und auch bei der höchst entwickelten Technik, infolge ungünstiger Temperaturen etc. im einen Jahre vielleicht Tausende von Millionen weniger an Werthen erzeugt werden als im anderen Jahre. Auch dann also, wenn die „antikollektivistischen“ Bauern sich heute schon der Lehre des rheinischen Advokatensohnes Karl Marx geneigter zeigen würden, als sie es thun – auch dann stieße eine „gerechte“ Behandlung der vorläufig noch den Ausschlag gebenden landwirthschaftlichen Warenerzeugung von Jahr zu Jahr auf so große Schwierigkeiten, daß jedenfalls nicht die menschliche „Arbeit“ das Entscheidende bei Bemessung des Antheils am gemeinsamen Produktionserfolg sein könnte. Nicht einmal für die Beurtheilung der Handarbeiter unter sich würde jener Maßstab ausreichen. Diese Voraussetzung liegt aber der ganzen Marx’schen Theorie zu Grunde, eben weil sie nichts anderes ist als eine voreilige und auf einseitiges Thatsachenmaterial aufgebaute Verallgemeinerung der industriellen Entwicklung Englands in den Jahren 1800 bis 1860.

Wir können also sagen: das Utopische, das Vergebliche in den Weltverbesserungsplänen unserer heutigen Sozialdemokratie liegt darin, daß die Führer die Vorstellungen, Begriffe und Wahrheiten, die sie der industriellen Wirthschaftsentwicklung entnommen haben und entnehmen, ohne weiteres auf die ganz anderen Gesetzen und Thatsachen unterworfene Landwirthschaft anwenden. Wer nur immer die Gewerbe- und Bevölkerungsstatistik der letzten fünfzig Jahre verfolgt, wird binnen kurzem finden, daß während die Erzeugung in gewissen industriellen Artikeln sich um das fünf-, zehn-, ja zwanzigfache gesteigert hat, die der Landwirthschaft sich vielfach gleichgeblieben ist oder nur sehr unwesentliche Fortschritte gemacht hat. Wer aber sein ganzes Leben innerhalb der Pflastersteine einer modernen Fabrikstadt zugebracht hat und nur ihr riesiges Anschwellen vor sich sieht, der ist leicht geneigt, das zu übersehen, was draußen im Lande geschah oder nicht geschah – – – und so dürfte die Weltanschauung des „ökonomischen Materialismus“ auch nichts anderes sein, als was so manche Weltanschauung vor ihr gewesen ist, nämlich eine einseitige und daher zur Erklärung des Ganzen unfähige Verallgemeinerung gewisser Theilwahrheiten und Entwicklungserscheinungen.

Es verdient hervorgehoben zu werden, daß die Zukunftsbilder der offiziellen Sozialdemokratie im allgemeinen ziemlich optimistisch angehaucht sind. Und doch könnten manche Erscheinungen der Gegenwart viel eher zu einer anderen, weit weniger erfreulichen Ansicht über die Zukunft der Völker Europas verleiten. Man könnte, im Rückblick auf den riesenhaften Verfaulungsprozeß des alten römischen Weltreiches, zu der Befürchtung geneigt sein, daß wie die „Großgrundbesitze Rom ins Verderben gestürzt haben“ – latifundia perdidere Romam – so die Zusammenballung des industriellen und sonstigen beweglichen Reichthums in wenigen Händen bei uns in anderer Form die Kultur zersetzen müsse.

Von diesen überängstlichen Bedenken werden in der That manche heiße Vaterlandsfreunde gepeinigt: ihr Blick richtet sich daher hinaus in eine andere Welt, aber nicht in eine solche des phantastischen Nirgendwo, nicht in eine blasse Zukunft – sondern in erreichbare noch unkultivierte Erdtheile und Landstriche.

Die landlosen Kinder einer überfeinerten Kultur sehnen sich hinaus nach einem neuen, nach einem „freien Land“!


Theodor Mommsen.

Ein Gedenkblatt zu seinem 50jährigen Doktorjubiläum.

In jammervoller Ohnmacht lag Deutschland am Boden, geknebelt von der mächtigen Faust des korsischen Eroberers. Die Willkür des Imperators entschied über Sein oder Nichtsein alles dessen, was man als geschichtlich Gewordenes mit Achtung zu betrachten gewohnt war; die Heiligkeit, welche die Jahrhunderte verleihen, gab es nicht mehr.

Es war nur der natürliche Rückschlag gegen eine solche Mißachtung aller geschichtlichen und nationalen Ueberlieferungen, daß in eben dieser Zeit die moderne deutsche Geschichtsforschung und Geschichtschreibung geboren wurde. Weil die Zerstörungswuth des Fremdlings so brutal aufräumen wollte mit den alten Staaten und Dynastien, mit überkommenen Rechten und liebgewordenen Sitten unseres Volkes, eben deshalb hingen sich die Besten der Nation mit besonderer Liebe daran, versenkten sich mit Eifer und Begeisterung in die nationale Vergangenheit und suchten in ihr nicht etwa die Kraft der Entsagung, sondern den Muth des Widerstandes. Jakob Grimm sammelte die Reste des alten deutschen Volksglaubens, des Volksrechts und der Sprache, Eichhorn arbeitete an seiner deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, und der Freiherr von Stein entwarf den Plan zu einer wissenschaftlichen Sammlung aller Quellenschriften der deutschen Geschichte, den Plan, aus dem dann das großartige Unternehmen der „Monumenta Germaniae historica“ hervorwuchs. Die Schärfung des kritischen Blicks, die Schulung in planmäßigem Forschen wirkte befruchtend auch auf die anderen Gebiete der Geschichte, unter dem geistigen Hauche dieser Zeit hat Barthold Georg Niebuhr, der einstige Bankdirektor, seine bahnbrechenden Vorlesungen über die römische Geschichte an der neugegründeten Berliner Universität gehalten. Mit ebensoviel Gelehrsamkeit wie kühner Anschauungsgabe machte er sich daran, aus dem Wust der römischen Ueberlieferung die römische Geschichte der älteren Zeit herauszusondern, durch den Wirrwarr von Sagen, Fabeleien, Entstellungen und zuverlässigen Nachrichten, welchen die Schriftsteller des Alterthums darbieten, zum wahren Kern der Thatsachen durchzudringen.

Auf den Bahnen, die Niebuhr gezeigt hat, ist keiner zu größeren Erfolgen fortgeschritten als Theodor Mommsen.

Als Niebuhr am 2. Januar 1831 starb, war Theodor Mommsen ein dreizehnjähriger Knabe, der daheim in seinem elterlichen Hause von seinem Vater, einem Prediger, auf das Gymnasium vorbereitet wurde. Für den Geist, der in diesem Hause herrschte, ist es bezeichnend, daß nicht bloß der älteste Sohn, der am 30. November 1817 zu Garding in Schleswig geborene Theodor, sondern auch seine beiden jüngeren Brüder Tycho und August auf dem Gebiet der Philologie und Alterthumskunde Hervorragendes geleistet haben. Theodor Mommsen ist allerdings nicht von der Philologie, sondern von der Jurisprudenz aus, der er sich von 1843 bis 1844 zu Kiel widmete, auf die Bahn des Historikers gelangt. Auch die ersten akademischen Professuren, die er bekleidet hat, zu Leipzig in den Jahren 1848 bis 1850, zu Zürich 1852 bis 1854, zu Breslau 1854 bis 1858, waren juristische, und erst in Berlin erhielt er eine Professur für alte Geschichte, die er nunmehr seit 35 Jahren innehat. Aber schon die Dissertation, „De collegiis et sodaliciis Romanorum“ („Ueber das politische Klubwesen in Rom“), mit welcher er sich vor nunmehr fünfzig Jahren den Doktorhut erwarb, wies auf die Bahnen seiner späteren Lebensaufgabe hin, und die ersten drei Bände seines Hauptwerkes, der „Römischen Geschichte“, erschienen noch, als ihr Verfasser in Zürich und Breslau als Professor des römischen Rechts wirkte.

Diese „Römische Geschichte“, die seitdem in acht Auflagen verbreitet wurde, hat Mommsens Ruhm in der Oeffentlichkeit begründet und wird ihn noch lange lebendig erhalten weit über den Kreis seiner Fach-, ja seiner Volksgenossen hinaus. Zu der gewaltigen Wirkung, welche dieses gelehrte Werk zu erzielen vermochte, hat nicht am wenigsten der wahrhaft glänzende Stil beigetragen, den Mommsen schreibt: anschaulich und knapp, ausgezeichnet durch Fülle und Rundung der Sätze, gespickt mit schlagenden Wendungen, wie ein mit Edelsteinen geschmücktes Gewand. Besonders tritt seine Neigung hervor, antike Verhältnisse durch ganz moderne Ausdrücke wiederzugeben. Da liest man von Junkerthum und hoher Finanz, von Generalen und Stabsoffizieren, von Konservativen, Demokraten, Klubwirthschaft u. dgl. m. Man hat vielleicht nicht mit Unrecht behauptet, Mommsens historischer Stil verrathe die Schule des politischen Agitators und Schriftstellers, und diese Schule hat er allerdings durchgemacht. Nach Vollendung seiner Kieler Studien hatte Mommsen nämlich eine Zeitlang als Privatlehrer in Altona gelebt, war dann auf wissenschaftliche Reisen nach Italien und Frankreich gegangen, und als er zurückkehrte, fand er seine meerumschungene Heimath in hellem Aufruhr gegen Dänemark. In dieser heißen Zeit hielt auch er es nicht aus in der stillen Gelehrtenstube. Er leitete ein paar Monate des Jahres 1848 hindurch die „Schleswig-Holsteinische Zeitung“ in Rendsburg, und hier mag er sich in der Kunst einer zündenden Schreibweise geübt haben, einer Kunst, die ihm später voll zu Gebote stand. Freilich, seine Theilnahme an den politischen Kämpfen dieser Tage hatte auch ihre Kehrseite; kaum war er außerordentlicher Professor an der Universität Leipzig geworden, als die erstarkende Reaktion auch nach ihm ihre Hand ausstreckte und ihm den Prozeß machte, der 1850 zu seiner Absetzung führte. Uebrigens ist Mommsen, um dies hier gleich anzufügen, auch in den späteren Jahren seines Lebens politisch thätig gewesen und hat neun Jahre lang, 1873 bis 1882, als liberaler Abgeordneter den Wahlbezirk Kottbus-Spremberg-Kalau im preußischen Landtag vertreten.

Wenn die „Römische Geschichte“ dasjenige Werk Mommsens ist, das seinen Namen in weite Kreise des Volkes getragen hat, so ist sie doch nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil seiner Lebensarbeit, die im übrigen allerdings unmittelbar mehr dem Fachgelehrten zu gute kommt. An Wichtigkeit steht jenem Werke gleich Mommsens Darstellung des römischen Staatsrechts, worin die in seiner Person verkörperte Vereinigung des Juristen und Historikers die glänzendsten Früchte zeitigte. Dann aber hat er, um von zahllosen Einzeluntersuchungen zu schweigen, auf einem Felde bahnbrechend gewirkt, das ist die Inschriftenkunde. Nicht bloß hat er wie Boeckh für das griechische, so für das lateinische Sprachgebiet die Grundlinien gezogen, auf denen eine streng wissenschaftliche Sammlung und Sichtung der sei es in natura, sei es in schriftlichen Zeugnissen uns erhaltenen Inschriften sich aufzubauen hat, er hat es auch meisterhaft

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