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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

gelang es Erwin, ein Unterkommen zu finden. Die Beschäftigung war einfach. Er hatte mit einer Anzahl gefüllter Gläser zwischen den endlosen Reihen der Gäste hin- und herzugehen mit dem Ruf: „Lagerbier! Lagerbier!“. Ein festes Gehalt gab es nicht, der Verdienst wurde nach dem Absatz berechnet.

Am ersten Abend war seine Einnahme nicht sonderlich hoch, denn er ging immer mit gesenktem Kopf umher und hatte das Gefühl, als bilde er für alle Anwesenden einen Gegenstand des Staunens und Spottes. Bei jedem Anruf fuhr er erschreckt zusammen, bei jedem Blick, der sich auf ihn heftete, erröthete er. Wenn ihn jemand erkannte!

Als ihm ein Gast – wahrscheinlich ein „Grüner“, ein Frischangekommener – das erste Trinkgeld bot, da fuhr er mit einem Ausruf des Zorns zurück und warf dem Menschen das Geldstück vor die Füße. Ein Trinkgeld – ihm!

Aber diese Stimmung, mit der er am ersten Tag seinen neuen Beruf versah, hielt nicht stand. Schon am zweiten Abend fühlte er sich freier, er tummelte sich nach Kräften und seine Einnahme stieg auf das Doppelte. Nach einer Woche hantierte er so flink und gewandt, als sei er von jeher Kellner gewesen.

Von den anderen Kellnern des „Atlantic Garden“ zog sich Erwin soviel als möglich zurück; überdies war in der Wirthschaft selbst keine Zeit, um Privatgespräche anzuknüpfen. Nur nachts auf dem Nachhausewege hatte sich ihm schon ein paarmal einer seiner neuen „Kollegen“ angeschlossen, ihr Gespräch hatte sich jedoch ausschließlich um ihren Verdienst und andere Dinge ihres Berufs gedreht. In seinem Aeußeren hatte William – so nannte man ihn, da im „Atlantic Garden“ die Kellner nur beim Vornamen gerufen wurden – nichts Außergewöhnliches. Er trug wie alle seine Genossen eine kurze dunkle Jacke und während der Arbeit zugleich einen kleinen Lederschurz um die Hüften. Daß er schon einige Jahre im Lande war, entnahm Erwin einigen gelegentlichen Aeußerungen sowie dem Umstand, daß er im Gespräch vielfach englische Wörter und Redewendungen unter sein Deutsch mischte.

Nach alledem war Erwin ungemein überrascht, als William einmal spät nachts, nachdem sie eine Weile schweigend durch die Straßen geschritten waren, plötzlich stehen blieb, ihm die Hand auf den Arm legte und beim Schein einer Gaslaterne ihn scharf ins Auge faßte. „Sagen Sie ’mal – nicht wahr, Sie waren drüben Offizier?“

„Ich?“ stotterte Erwin verwirrt, „warum – wieso?“

„Nun“ – der andere lächelte leicht – „man sieht’s Ihnen immer noch deutlich an, wenn man einen Blick dafür hat. Die Art, wie Sie Ihr Haar tragen, der Ton Ihrer Stimme – na“ – er unterbrach sich und klopfte dem peinlich berührten Genossen beschwichtigend auf die Schulter – „Sie brauchen sich nicht zu genieren, vor mir nicht! Ich habe die Ehre, mich Ihnen als Kameraden vorzustellen: von Oeller, ehemaliger Lieutenant bei den Gardegrenadieren.“

Er legte mit einer salutierenden Bewegung die Hand an die Kopfbedeckung und auch Erwin fuhr unwillkürlich mit seiner Rechten an den Hutrand. Dann streckte er in freudiger Aufwallung dem Kameraden die Hand hin und stellte sich selbst in aller Form vor. Sein Vergnügen war ungeheuchelt. Endlich einmal ein Mensch, mit dem er auf gleichem Fuße verkehren konnte!

Fünf Minuten später saßen die beiden in einer der kleinen Nachtkneipen der Bowery einander gegenüber, in allerlei heitere und ernste Erinnerungen aus der schönen seligen Lieutenantszeit vertieft. Erwin schloß sein Herz auf, war es doch ein Stück Heimath, das er in dem Kameraden erblickte. Die Vergangenheit mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit zog an dem Geiste des lebhaft und angeregt Plaudernden vorüber. Noch nie, seit er Deutschland verlassen, hatte er sich so wohl gefühlt, noch nie eine so heitere schöne Stunde verlebt. Ja, ihm schwand minutenlang ganz das Bewußtsein seiner gegenwärtigen Lage, er fühlte sich wieder als Angehöriger des „privilegierten“ Standes und mehr als einmal tastete er unwillkürlich nach dem Monocle, das er mit den Abzeichen seiner Lieutenantswürde drüben in der Heimath gelassen hatte.

Auch Herr von Oeller gab seiner Genugthuung, in Erwin einen Kameraden entdeckt zu haben, lebhaften Ausdruck. „Waren Sie schon einmal in Peter Schwabs Biersalon in der zweiten Avenue?“ fragte er. Und als Erwin verneinte, fuhr er lebhaft fort: „Nicht? O, da müssen Sie einmal hin! Sie werden sich auf Ehre königlich amüsieren. Alle Sonnabende ist dort große Zusammenkunft von Kameraden. Wer weiß, ob Sie da nicht alte Bekannte treffen!“

Erwin fühlte sich wie elektrisiert. War es denn möglich – ein förmlicher Klub von Kameraden? Das war ja köstlich! Wieder einmal ganz unter sich zu sein, das war unbezahlbar!

Der Morgen dämmerte schon herauf, als die beiden noch immer plaudernd und trinkend beisammen saßen. Endlich erhob Herr von Oeller das ihm eben frisch eingeschenkte Glas und sagte: „Das letzte! Leeren wir es auf die Vergangenheit, auf die unvergeßliche unvergleichliche Lieutenantszeit. Sie lebe hoch!“

„Sie lebe hoch!“ stimmte Erwin begeistert ein. Als er sein Glas leer auf den Tisch zurückgestellt hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Er galt der goldenen Lieutenantszeit, der unwiederbringlich verlorenen.




7.

Am nächsten Sonnabend gegen zwölf Uhr nachts suchte Erwin in Begleitung des Herrn von Oeller Peter Schwabs Biersalon auf. Mit freudiger, fast fieberhafter Spannung betrat er das Lokal. Sein Begleiter stellte ihn den Herren, die an einem großen runden Tisch im Hintergrund des Saales saßen, in aller Form vor.

„Herr von Buschenhagen, Kamerad vom X. Infanterieregiment.“

Die Herren nannten nacheinander ihre Namen und begrüßten den Neuangekommenen mit liebenswürdiger Herzlichkeit. Erwartungsvoll sah sich Erwin im Kreise der Tischgenossen um, aber er bemerkte kein bekanntes Gesicht. Dennoch fühlte er sich bald heimisch unter den Kameraden. Ihre Art zu sprechen, die Lieblingsausdrücke im Gespräch, die immer wiederkehrten, ihre Formen und Gewohnheiten – alles das heimelte ihn an. Es war, wie wenn Freimaurer einander in der Fremde sich sogleich an ihren Bundeszeichen erkennen.

Die Unterhaltung drehte sich zum größten Theil um die Erlebnisse im neuen Vaterland. Und was Erwin staunend hier zu hören bekam, war ebenso interessant wie die Persönlichkeiten der Erzähler selbst. Der eine, ein Herr zu Anfang der Vierziger, von eindrucksvoller Persönlichkeit, über sechs Fuß hoch, breitschulterig, mit langem blonden Kotelettbart, war schon zehn Jahre im Lande. Er hatte sich in den verschiedenartigsten Lebenslagen befunden, hatte zeitweise im Ueberfluß geschwelgt, dann wieder wochenlang einen verzweifelten Kampf gegen den Hunger geführt. Im fernen Westen war er Farmarbeiter, dann Lehrer gewesen, darauf Kutscher und später Prediger einer Methodistengemeinde. Jetzt in New York hatte er die Stellung eines Reitlehrers an dem Institut eines Pferdeverleihers inne, wofür er fünfundzwanzig Dollar wöchentlich bezog.

Ein Zweiter, eine kleine zierliche Husarenfigur, ein Freiherr von Metzen, war erst ein Jahr in der Neuen Welt. Der Zufall hatte ihn mit einem deutschen Bäckermeister bekannt gemacht; jetzt arbeitete er bei diesem als „zweite Hand“. „Was wollen Sie,“ bemerkte er zu Erwin, der ein erstauntes Gesicht zu dieser Mittheilung machte, „man muß froh sein, wenn man sich durchschlägt. Wählerisch darf man hier zu Lande nicht sein. Hier heißt es: Friß, Vogel, oder stirb! Ich kann noch von Glück sagen. Die Tochter meines Prinzipals, sein einziges Kind, ist verschossen in mich bis über die Ohren. Der Alte ist ein wohlhabender Mann und – na, Sie verstehen mich, Herr Kamerad.“

Erwin schüttelte sich unwillkürlich. Der Schwiegersohn eines Bäckermeisters! Dafür würde er denn doch danken.

Dem Freiherrn gegenüber fast ein bildhübsches Herrchen mit frischen rothen Wangen, zierlichem wohlgepflegten Schnurrbart und zarten Frauenhändchen. Er hatte sich Erwin als ein Baron von Reussenstein vorgestellt. Seinem Aeußeren nach mußte er sich in guten Verhältnissen befinden, denn er war eleganter gekleidet als irgend ein anderer der Tafelrunde. Höchstens der Reitlehrer konnte sich in dieser Hinsicht mit ihm messen.

„Ein frisches Glas!“ rief er eben nach dem Schenktisch hinüber.

„Sagt ’mal, Reussenstein,“ nahm sein Nachbar, ein sehr würdig dreinblickender Herr mit gelichtetem Scheitel und ruhigen gravitätischen Bewegungen, das Wort, nachdem der Wirth das

frisch gefüllte Glas auf den Tisch gestellt hatte, „Ihr seid für

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 743. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_743.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2019)