Seite:Die Gartenlaube (1893) 738.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

in einem Saale des Rathhauses, in dem sich die Menschen Kopf an Kopf drängten.

Dora konnte sich doch einer gewissen Beklemmung nicht erwehren, als sie, von dem Bergrath begleitet, auf einer Seitentreppe das kleine Vorzimmer erreicht hatte, von dem aus sie das Podium betreten mußte, und das Schwirren und Gemurmel der großen Versammlung vernahm, vor der sie in wenigen Augenblicken erscheinen sollte. Wie im Traum sah sie in dem hohen Pfeilerspiegel ihr eigenes Bild. War sie wirklich dieses stolze königliche Weib mit dem wallenden Mantel, über den das Haar leuchtend herabfloß, diese gebietende Erscheinung mit dem ernsten Haupt, das so hoch und kühn erschien unter dem goldenen Stirnband und dem Eichenlaubkranz?

Ein Rauschen und Flüstern im Saal, ein Stühlerücken, dann eine Stille. Der Minister war eingetreten.

„Muth!“ flüsterte ihr der Bergrath zu, während sie die Stufen zu dem Podium emporstieg.

Die Musik begann, der Vorhang theilte sich. Hunderte von Augen waren auf sie gerichtet. Aber in diesem Augenblick fühlte sie keine Befangenheit mehr. Laut und kräftig klang ihre Stimme in dem tiefen Schweigen. Wie durch eine fremde Macht dünkte sich Dora emporgehoben über alle Scheu, durchströmt von feuriger Begeisterung. Deutlich sah sie nur ein einziges Gesicht, ein fremdes, ernstes – ein Paar trauriger gütiger Augen, die unverwandt zu ihr aufblickten.

Sie fühlte noch ein Brausen in den Ohren, eine Fiebergluth in den Adern, als längst der Vorhang sich geschlossen hatte und draußen die Stimme eines Redners sich erhob, auf die ein lautes Hochrufen folgte. Sie stand allein in dem kühlen Vorzimmer und wollte eben den Kranz aus dem Haar nehmen, als man an die Thür klopfte.

„Seine Excellenz wünscht der ‚Germania‘ vorgestellt zu werden.“

Sie wußte, als die Tochter eines Beamten, daß der Wunsch eines Ministers einem Befehle gleichkomme – sonst würde sie sich lieber nicht im Kostüm in den Saal gewagt haben. So aber nahm sie ohne Widerrede den Arm des sehr erregten jungen Mannes, der die Botschaft gebracht hatte und als Mitglied des Festausschusses einen Blick des Ministers auf sich zu lenken hoffte. In der nächsten Minute stand sie, sich verneigend, vor der gefeierten Persönlichkeit. An gewöhnlichen Tagen hätte sie vielleicht ein leises Herzklopfen verspürt – in dem sanften Taumel, in dem sie sich jetzt befand, fühlte sie eine vollkommene Sicherheit. Als sie in das Gesicht des Ministers blickte, erkannte sie dieselben Züge, die sich ihr während ihres Vortrags klar und scharf aus dem Menschenknäuel hervorgehoben hatten. Also jene gütigen traurigen Augen waren die seinigen gewesen!

Der Minister war ein sehr großer Mann mit leise nach vorn gebeugter Gestalt. Der spitz zugeschnittene Vollbart, der sein gedankenvolles Gesicht umrahmte, war schon mit grauen Fäden durchzogen; um den edelgeformten Mund lag ein sympathischer Zug. Dora hatte sich die Excellenz viel stolzer und herablassender gedacht. Statt dessen schien der Freiherr eher schüchtern und befangen, als er ihr nun seine Freude, seinen Dank ausdrückte für ihre schöne Verkörperung der deutschen Idealgestalt.

Sie wollte sich nach einigen wohlgesetzten höflichen Redensarten mit einer Verbeugung zurückziehen, denn einer der Herren hatte sich dem Minister genähert und forderte seine Aufmerksamkeit. Allein sie vermochte den Kreis, der sich um die Excellenz gebildet hatte, nicht zu durchdringen und konnte nur ein paar Schritte zurückweichen.

Gleich darauf wurden die großen Thüren des anstoßenden Saales geöffnet, man blickte auf die lichtübergossene, von Krystall und Silber funkelnde Tafel, die hier gedeckt war. Das größere Publikum hatt sich zurückgezogen; nur der Festausschuß, die Beamten und Offiziere, die an dem Bankett theilnahmen, standen mit ihren Damen in großer Toilette umher und harrten auf den Vortritt des Ministers. Dieser schaute sich um, trat mit einem Lächeln auf Dora zu und sagte, ihr seinen Arm bietend: „Ich brauche nicht nach der höchsten Würdenträgerin zu suchen; Germania hat den Vorrang vor allen deutschen Frauen!“

Schüchtern legte Dora die Hand auf seinen Arm und senkte die Augen, als sie nun, von ihm geführt, durch die Reihen der ehrerbietig zurückweichenden Herren und Damen schritt. Sie fühlte, daß alle Blicke auf sie geheftet waren, daß auf allen Gesichtern die Frage zu lesen stand: „Was will das Mädchen hier, die Gesellschafterin? Warum ihr diese Auszeichnung?“ Es war ihr scheu und beklommen zu Muthe, als sie in ihrem phantastischen Gewand mitten unter den Gesellschaftstoiletten der anderen Damen, unter den schwarzen Fräcken und bunten Uniformen an der Seite des Ministers Platz nehmen mußte. Doch wie er nun mit seiner freundlichen Stimme, mit seinem wohlwollenden Lächeln das Wort an sie richtete, da fand sie ihre Haltung wieder. Sie ließ sich gelassen von der entrüsteten, durch sie verdrängten Bürgermeisterin anstarren und hielt den Augen stand, die sie mit süßsaurer Miene betrachteten. Eine große milde Ruhe schien von dem ernsten Manne an ihrer Seite auf sie überzuströmen. Voll Interesse fragte er nach ihrer Heimath, nach ihrer Familie.

„Otto Herwald ist Ihr Vater, der frühere Kabinettsekretär? Ich kenne ihn schon von der Zeit her, da ich noch Rechtspraktikant war und Ihr Herr Vater mein Vorgesetzter. Damals hatte er noch blondes üppiges Haar – wie Sie, mein Fräulein! Und Sie haben auch seinen freien Wuchs und seine klare Gesichtsfarbe. Die ernsten blauen Augen dagegen müssen wohl ein Geschenk Ihrer Mutter sein.“

Sie plauderte bald mit unbefangener Lebhaftigkeit und freute sich, daß das Gespräch so mühelos und ungezwungen zwischen ihnen dahinfloß. Nur zuweilen schien es ihr, als bemächtige sich seiner eine plötzliche Zerstreutheit; wie gedankenverloren schaute er sie dann an und antwortete wie abwesend: „Ja, ja, gewiß – in der That!“ Dann brach sie erröthend mitten im Satze ab und fürchtete, ihn gelangweilt zu haben. Aber er besann sich sofort und bat: „O bitte, fahren Sie fort! Ich höre! Ich höre Ihnen so gerne zu.“

Nun begannen die Festreden. Ein leiser Seufzer entfuhr dem Munde des Freiherrn. Er senkte die Augen und blickte unverwandt auf die Mädchenhand, die neben ihm auf dem Tischtuche lag, während ein blasser Mensch mit Schweißtropfen auf der Stirne seine mühsam eingelernten Sätze herauswürgte. Es war eine lange Qual für den Redner und die Hörer, und Dora athmete befreit auf, als endlich das „Hoch“ auf die Excellenz von allen Lippen erklang. Ihr Tischnachbar neigte sein Glas zu dem ihrigen und sah ihr dabei tief und seltsam in die Augen.

Als er darauf sich erhob und seine Stimme durch den lautlos gewordenen Saal tönte, da wußte sie, daß er ein Recht hatte, an Rang und Ansehen über die anderen emporzuragen. Wie beredt ihm die Worte von den Lippen flossen; wie klar und einfach sich ihm die Sätze rundeten, die soviel mehr sagten als die weitschweifigen Phrasen, mit denen er gefeiert worden war! Sie war ordentlich stolz, daß dieser Mann, hinter dessen Stirn so tiefe Gedanken wohnten, ihrem schlichten Geplauder seine freundliche Aufmerksamkeit geliehen hatte.

Der Minister blieb liebenswürdig gegen seine Tischnachbarin bis zuletzt und dankte ihr endlich ganz bescheiden für den schönen Abend, den ihre Gesellschaft ihm bereitet habe. Dora nahm die Auszeichnung, die er ihr hatte angedeihen lassen, harmlos hin als das Wohlwollen eines älteren Mannes für die Jugend, als eine Huldigung, die mehr ihrer Rolle denn ihr selbst galt. Kein Mißklang, keine Unruhe störte ihr frohes Selbstgefühl, als sie in Begleitung des Bergrathes und seiner Frau den Saal verließ und auf dem Heimweg die begeisterten Dankesworte des glücklichen Dichters entgegennahm, der von Wonne strahlte über die hohe Gnade, die sich, dank der schönen „Germania“, auch über ihn ergossen hatte.

Frau von Heinel verlor alle Fassung, als sie hörte, der Minister habe ihre Gesellschafterin zu Tisch geführt. Sie wußte, welch tiefe Kränkung damit verschiedenen Damen zugefügt worden war, die um diese Ehre gegeizt und sich im Wettkampf um dieselbe schon im voraus verfeindet hatten.

„Armes Kind!“ rief sie, immer wieder den Kopf schüttelnd, „diese Auszeichnung wird böses Blut machen, sehr böses Blut! Ich kann auch nur die eine Erklärung finden: der Herr Minister muß sich in Sie verliebt haben, Dora, sonst hätte er nicht so gegen alles Herkommen gehandelt.“

Dora lächelte über den Haß der Damen wie über die Erklärungsversuche der Räthin; am allerdrolligsten aber erschien es ihr, daß diese nun eine gewisse Hochachtung und Ehrerbietung gegen sie an den Tag legte, als wäre von der Person des Ministers ein Goldglanz an ihr hängen geblieben. (Fortsetzung folgt.)     


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 738. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_738.jpg&oldid=- (Version vom 9.4.2023)