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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

werde ich eine Stelle als Gesellschafterin oder Erzieherin annehmen. Ich habe das Verlangen nach einer bestimmten Thätigkeit.“

„Was fällt Dir ein?“ rief die Mutter bestürzt. „Was sind das für überspannte Ideen!“

Der Vater aber, von ihrem blassen traurigen Gesicht wie von einem Vorwurf berührt, bemerkte ärgerlich: „Sie soll ihren Willen haben! Ja, thu das, Dora! Sieh Dir einmal die Welt an! Probier’, was es heißt, an fremdem Tisch und unter fremdem Willen zu leben. Das ist die vernünftigste Kur für Deine Launen. Du wirst gerne wieder heimkommen und dann froh sein am Elternhaus.“

Dora ließ sich von ihren Schwestern deren französische und englische Lehrbücher geben und saß nun stundenlaug im stillen Obstgarten und wiederholte die trockenen Sprachregeln. Das Lernen war ihr wie eine Befreiung. Sie wollte jeden anderen Gedanken in sich ersticken, ihren schmerzenden Kopf so mit Wissen vollpfropfen, daß kein Raum mehr blieb für thörichte Sehnsucht.

Nach der Rückkehr in die Stadt begann sie sich mit Eifer um eine Stelle zu bemühen, und die erste, die sich ihr bot, nahm sie an. Eine ältere, einzelnstehende Dame in einer kleineren Stadt der Provinz suchte eine Gesellschafterin, die musikalisch war und ihr in fremden Sprachen vorlesen konnte. Diesen Anforderungen glaubte Dora zu genügen, und wenn ihr auch eine weitere Entfernung und der Aufenthalt in einer Großstadt wünschenswerther gewesen wäre, so wollte sie doch nicht lange zögern und wählen. Die Hauptsache war ja, fortzukommen, fort aus den heimathlichen Straßen, in denen sie auf Schritt und Tritt Gefahr lief, Emil wieder zu begegnen. Sie erfuhr auch wenig Liebe mehr im Elternhause. Ihr Entschluß hatte sie selbst der Mutter entfremdet.

Die Abreise, die erste einsame Eisenbahnfahrt, die Ankunft an einem neuen Ort, unter ganz neuen Verhältnissen – alles das war nun freilich ein Ereigniß, das ihr junges Gemüth aufregte und ihre Gedanken ablenkte. Aber sie erschrak vor der Dame, deren Heim sie theilen sollte. Die Appellrathswitwe von Heinel war eine groteske Erscheinung. Auf einem winzigen kugelrunden Körper mit kurzen Aermchen und Beinchen saß ein großer Kopf mit einem mächtig entwickelten Doppelkinn, dessen Fülle noch auffälliger wurde, weil Stirne und Augen von einem grünen Lichtschirm verdeckt waren. Aber die Stimme klang gutmüthig, und die alte Dame war offenbar bei der Begegnung mit der neuen Hausgenossin nicht weniger in Erregung und Spannung wie diese selbst.

Die liebevolle Güte, mit der Frau von Heinel Dora aufnahm, bewahrte diese vor der großen Reue über ihren Entschluß, von der sie sonst sicherlich erfaßt worden wäre. Wie so manches andere junge Mädchen hatte Dora geglaubt, in der Ferne sei die „Welt“, die große Welt, die ihr sofort einen bedeutenden Wirkungskreis erschließen werde. Und nun mußte sie erfahren, daß das, was sie „Welt“ genannt hatte, immer in der weiten Ferne blieb wie der Horizont, der ewig vor den Augen fortrückt; daß ihr Wirkungskreis sich gerade wie daheim aus kleinen alltäglichen Pflichten zusammensetzte.

Es war für jemand, der seinen Gedanken entfliehen wollte, unerträglich einförmig im Haushalt der Witwe. Der Tageslauf wurde nach der Uhr geordnet. Zur bestimmten Stunde mußte Dora etwas vorspielen, zur festgesetzten Minute aus einem altmodischem rührseligen Roman vorlesen. Darauf legte die Dame ihre Patience und Dora saß bei ihr und sah die kleinen dicken Hände die Karten drehen und wenden, und die Uhr tickte so langsam, als seien die Sekunden plötzlich dreimal so lange geworden. Am Abend pflegten sich hier und da Besuche einzufinden, meist Damen, die eifrig von allen Geschehnissen der kleinen Stadt berichteten. Denn die Witwe, die ihr Leben in ihren Zimmern, auf ihrem Lehnstuhl zubrachte. interessierte sich aufs lebhafteste für alle Angelegenheiten der „besseren“ Familien, und eine wirkliche Neuigkeit war ein Fest für sie.

Dora hatte viel Kraft nöthig, um die erschlaffende Langeweile zu ertragen. Frau von Heinel hatte mit wohlwollender Neugierde herausgebracht, daß ein Liebeskummer das junge Mädchen aus der Heimath fortgeführt habe, und tröstete Dora getreulich. Es würde gewiß alles noch gut werden; sie selbst habe auch manche Thräne vergossen, bis sie mit ihrem seligen Leopold vor dem Altar gestanden habe. Während dann Dora immer wieder das Unfaßliche zu begreifen suchte, daß die dicke kleine Frau auch einmal jung und geliebt gewesen sei, hatte diese schon die Karten aufgelegt, um das Schicksal ihrer Gesellschafterin heraszulesen, und prophezeite mit unermüdlicher Geduld und unerschütterlichem Vertrauen ein großes Glück, vor allem einen wichtigen Brief, „der ins Haus stehe“.

Em Brief kam nun allerdiugs an Dora, aber er wühlte nur ihre schmerzlichsten Erinnerungen auf. Die Generalin Halden schrieb ihr in flüchtigem Plauderton unter anderen Mittheilungen: ihr gemeinschaftlicher Bekannter, der Assessor Wienburg, mache der Tochter des Ministerialraths von Kammerling aufs lebhafteste den Hof. Vielleicht lag in dieser Bemerkung eine kleine Bosheit versteckt, deren ja auch befreundete Frauen gegeneinander fähig sind, wenn es sich um einen Mann handelt. Jedenfalls aber ahnte die Generalin nicht, wie der kurze Satz die Stimmung der Armen, die ohnedies ihr Dasein von Woche zu Woche schwerer fand, bis zur Verzweiflung verbitterte. Dora war entschlossen, ihre Stellung zu kündigen und noch weiter in die Fremde zu wandern, so weit, daß Emils Name nicht wieder zu ihr dringen konnte.

Da nahm ein kleiner Zwischenfall ihre Gedanken in Anspruch und nöthigte sie zum Bleiben. Einmal in der Woche pflegten sich bei Frau von Heinel auch ein paar Herren zum Whistspiel einzufinden; Dora hatte dann den Thee zu bereiten und den Herrn Bergrath, den Herrn Rektor und den Herrn Rentamtmann damit zu versorgen. Sie hatte dieses Amt schon einige Male versehen. Als sie nun wieder einmal dem Bergrath seine Tasse reichte, fuhr er wie verblüfft vor ihr zurück, schob die Brillengläser zurecht und rief mit erregter Stimme: „Meine Germania! Meine endlich gefundene Germania!“

Dabei starrte er sie mit so weit geöffneten Augen an, sein schmales Gesicht mit der scharfen Nase, der hohen Stirn und dem kahlen Scheitel bot einen so ungeheuerlichen Anblick, daß Dora zwischen Lachen und Schrecken kämpfte und nicht wußte, ob der Mann aus plötzlichem Liebeswahnsinn oder aus einem noch ungewöhnlicheren Grund den Verstand verloren habe. Erst allmählich erholte er sich genügend von seiner freudigen Ueberraschung, um ihr in einer langen Rede zu erklären, daß man demnächst den Besuch des Ministers erwarte, der auf seiner Durchreise in der Stadt absteigen und sich einen Tag aufhalten werde, zur Besichtigung des neuen Archivs. Ein Ausschuß habe sich gebildet, um die hohe Persönlichkeit gebührend zu feiern. Vor dem Bankett im Rathhause an dem sämtliche Honoratioren mit ihren Frauen theilnehmen würden, sollte ein kurzes Festgedicht gesprochen werden. Er – der Bergrath lächelte stolz bescheiden – sei beauftragt worden, für diese Gelegenheit die Verse zu liefern, da man seine kleine poetische Ader kenne, und im Hinblick auf die bekannten patriotischen Gesinnungen des Ministers habe er seine Dichtung einer „Germania“ in den Mund gelegt. Umsonst aber suche man seit Wochen nach einer passenden Vertreterin für diese Rolle. Nun habe er sie gefunden, schöner, herrlicher, als seine kühnsten Träume sie ihm ausgemalt hätten. Ein Eichenlaubkranz für das goldene Haar, ein weiches faltiges Gewand, von einem goldenen Gürtel gehalten – entzückend! Seine Verse würden hinreißen, von solchem Munde gesprochen! Ob sie ihm den Gefallen erweisen würde?

Sie erwiderte ausweichend, aber Frau von Heinel klatschte ungeduldig in die kleinen Hände und rief, Dorn müsse dem Bergrath den Gefallen unter allen Umständen erweisen, und die Sache sei einfach abgemacht. Dora sträubte sich nicht länger. Freilich mußte sie sich gestehen, daß sie ein entschiedenes „Nein!“ zur Antwort erhalten würde, wenn sie die Erlaubniß ihrer Eltern einholen wollte; allein in einem gewissen Trotze, den sie noch immer hegte, beschloß sie, selbständig zu handeln und über das Fest den Eltern gegenüber zu schweigen.

Die Verse des Bergraths hatte sie rasch ihrem Gedächtniß eingeprägt und sie verlor die Geduld nicht, wenn der von seinem Machwerk begeisterte Dichter immer aufs neue eine Wiederholung wünschte, Frau von Heinel nahm mit der größten Aufregung an der Sache Theil und wunderte sich, daß das junge Mädchen mit so gleichgültiger Ruhe das Gewand der „Germania“ anprobierte, ohne Freude über die eigene Schönheit oder ein Bangen vor dem öffentlichen Auftreten zu verrathen.

An dem Tag, an dem der Minister des Innern, Freiherr von Telf, ankam, waren alle Häuser beflaggt, die Leute liefen vom frühen Morgen an feiernd umher, eine allgemeine Feststimmung herrschte. Erst am Abende fand die eigentliche Begrüßung statt,

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