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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


das herrliche Panorama des Hafens und der Stadt und die Großartigkeit des Bildes erfüllte ihn mit Staunen und Bewunderung. Da lag es endlich vor ihm, das ersehnte gelobte Land, das ihm eine zweite Heimath werden sollte! Frei, ein Mensch unter Menschen, würde er wieder sein Antlitz erheben können! Ein Gefühl zukunftsfroher Zuversicht durchströmte ihn, während er mit leuchtenden Augen unverwandt nach der Stadt hinüberblickte. Wie ein Rausch kam es über den Flüchtling.

Die gehobene Stimmung, in der sich der Landende befand, verhinderte ihn nicht, praktisch und nüchtern seine Zukunft zu erwägen. Er sagte sich, daß er auf eine lohnende und dauernde Beschäftigung in seinem Beruf erst dann rechnen könne, wenn er die Landessprache, die ihm fast völlig fremd war, verstehen und die Verhältnisse näher kennengelernt haben würde. Er verlor deshalb seine Zeit nicht mit vergeblichen Versuchen, eine Anstellung als Monteur zu erhalten, alle seine Bemühungen richtete er auf das eine Ziel, eine Thätigkeit zu finden, die Zeit und Kräfte nicht ganz in Anspruch nahm und dabei doch einigermaßen seinen Lebensunterhalt deckte. Als das Nächstliegende und Einfachste erschien es ihm, einen kleinen Handel zu beginnen, und wenn sich auch anfangs etwas wie Scham und Widerwillen gegen diesen Beruf in ihm regte, so wurde er mit dieser Empfindung doch rasch fertig. Er hatte kein Recht, wählerisch zu sein, und am Ende war doch jede Thätigkeit, die ehrlich nährte, für einen vernünftigen Menschen gleich anständig.

Er besann sich also nicht lange, kaufte sich einen kleinen Kram von billigen Toilettegegenständen, von Hemdenknöpfen, Bürsten, Kämmen und dergleichen zusammen und stellte sich damit täglich ein paar Nachmittagsstunden auf dem unteren Theil des Broadway auf, jener großen New Yorker Verkehrsader, durch die täglich Tausende und Abertausende von Geschäftsleuten aller Art ihren Weg nehmen. Um diesen Handel betreiben zu können, dazu gehörte an Sprachfertigkeit nicht viel mehr als die Kenntniß der Zahlen, die Franz sich sehr bald angeeignet hatte. Im übrigen mußten die Waren, die in einem offenen Kasten auslagen, sich selbst anpreisen.

Seine ganze freie Zeit benutzte er dazu, sich im Englischen zu üben. In dem Boardinghause, wo er für vier Dollar wöchentlich Kost und Wohnung hatte, suchte er näheren Anschluß nur an solche Hausgenossen, die englisch sprachen, und ein junger Maschinenschlosser, dessen Bekanntschaft ihm ein Zufall vermittelte, lehrte ihn die in seinem Beruf vorkommenden englischen Bezeichnungen. Nach zwei Monaten gelang es ihm endlich, in der Maschinenfabrik von R. Hoe und Kompagnie, einer der größten ihrer Art in New York, Beschäftigung zu erlangen, vorläufig freilich nur als gewöhnlicher Schlosser. Aber er hatte Aussicht, bei guten Leistungen und wenn er sich geuügend eingearbeitet haben würde, schnell vorwärts zu kommen. Er hatte bald gemerkt, daß man hier weniger auf Empfehlung und Gönnerschaft sah als auf das, was jeder nach seiner Arbeit und Zuverlässigkeit werth war.

Franz pries sich glücklich, und nichts hätte zu seiner vollen Zufriedenheit gefehlt, wenn nur die Nachrichten aus der Heimath etwas tröstlicher gelautet hätten. Seine Mutter war schwer erkrankt, und es schien, als sei die alte Frau nach all den Schicksalsschlägen, die sie betroffen hatten, gänzlich zusammengebrochen. Jedenfalls war in absehbarer Zeit nicht daran zu denken, daß sie die weite Reise über das Meer antreten konnte. Und so sah sich Franz in die harte Nothwendigkeit versetzt, die Erfüllung seines Lieblingswunsches vertagen zu müssen. Wohl hatte er keinen Mangel zu leiden, das Glück begünstigte ihn, alles, was er anfaßte, gelang. Aber doch wollte das rechte Heimathsgefühl sich nicht bei ihm einstellen. Sein Herz war drüben über dem Meer.

*  *  *

Erwin von Buschenhagen packte noch an demselben Tage, an dem er sich von seinem Urlaub zurückgemeldet hatte, seinen Koffer. Der neue Urlaub, der Vorläufer seiner Verabschiedung, wurde ihm schon am nächsten Morgen bewilligt. Pferd und Sattel, die er noch von seiner Adjutantenzeit her besaß, verkaufte er an einen Kameraden. Einige andere Gegenstände von Werth beschloß er mit nach Berlin zu nehmen, um sie dort zu veräußern. Den Kameraden sagte er nur oberflächlich Lebewohl; niemand ahnte, daß der lustige Buschenhagen für immer ging.

Von Löwenthal verabschiedete sich Erwin schriftlich, und zwar erst von Berlin aus, als er im Begriff stand, nach Hamburg abzudampfen. Er erklärte seinem Gläubiger ganz kurz, daß er leider nicht in der Lage sei, seinen Verpflichtungen nachzukommen, daß er aber „später“ alle seine Schulden auf Heller und Pfennig zu bezahlen gedenke. Und mit diesem Vorsatz war es ihm durchaus Ernst, ohne daß er sich freilich im Augenblick irgendwie darüber klar war, in welcher Weise ihm die Einlösung seines Versprechens möglich sein werde.

Nur von seinem getreuen Burschen nahm Buschenhagen persönlich herzlichen Abschied. „Na, Jänicke,“ sagte er, dem biederen Pommer kräftig die Hand schüttelnd, „Du wirst nun wieder in die Front zurücktreten. Das wird Dir in der ersten Zeit zwar nicht schmecken, aber es ist nun ’mal nicht zu ändern.“

Der Bursche fing an, mit den Augen zu blinzeln und furchtbare Gesichter zu schneiden.

„Aber wir wollen uns nicht gegenseitig das Herz weich machen!“ fuhr der Lieutenant fort. „Du bist immer ein guter Kerl gewesen und ich werde Dich in gutem Andenken behalten. Und ich weiß, auch Du wirst Deinen Lieutenant nicht vergessen.“

Jänicke war nicht imstande, ein verständliches Wort zu erwidern. Er mußte sich damit begnügen, ein paar unartikulierte Laute auszustoßen und die rechte Hand bezeichnend auf die linke Brustseite zu legen. Dabei liefen ihm dicke Thränen über die vollen Backen. Auch in des Lieutenants Mienen zuckte es und seine Stimme klang bewegt, als er jetzt von neuem begann: „Und, Jänicke, damit Du auch ein sichtbares Zeichen meiner Zufriedenheit hast und ein Andenken an mich, so nimm das hier“ – er reichte ihm ein einfaches goldenes Medaillon, das er selbst getragen hatte „und hänge es an Deine Uhrkette! Wenn Du Deine Zeit ausgedient hast und Du kommst nach Hause, dann zeige Deinen Eltern dies Bild“ – er öffnete die Kapsel und deutete auf eine kleine Photographie – „und sage: das war er, mein Lieutenant, der mir manchen ‚Esel‘ und ‚Schafskopf‘ an den Kopf geworfen, der es aber trotz alledem immer gut mit mir gemeint hat.“

Jänicke wußte nicht, wie ihm geschah; er blickte bald auf seinen Lieutenant, bald auf das Medaillon, das ihm sein Herr in die Hand gedrückt hatte, und sein breites Gesicht wollte sich zu freudigem Grinsen verziehen. Plötzlich aber brach er in ein lautes herzbrechendes Schluchzen aus. Der Lieutenant klopfte ihm ein paarmal beschwichtigend auf die Schulter und schob ihn dann sanft zur Thür hinaus, worauf Jänicke in seine Kammer stolperte, um sich daselbst ungestört seinem aufrichtigen Schmerz zu überlassen.

An demselben Abend wanderte Erwin im Civilanzug nach der Dammvorstadt hinaus. Er verband mit diesem Gange keine deutliche Absicht, aber ein unbestimmtes inneres Drängen ließ ihm keine Ruhe. Und was hätte er auch mit dem Rest seiner Zeit anfangen sollen? Seine Koffer hatte er durch seinen Burschen nach dem Bahnhof geschickt, der Schnellzug, der ihn nach Berlin führen sollte, ging erst um elf Uhr. Was also beginnen bis dahin, allein zwischen den öden vier Wänden?

Als er die Gegend betrat, die er leichten Herzens noch vor wenigen Wochen Arm in Arm mit Klara durchwandert hatte, da überkam ihn eine ungewohnte wehmüthige Stimmung, und zum ersten Mal seit dem peinlichen Vorfall mit ihrem Bruder überließ er sich der Erinnerung an das geliebte Mädchen ohne jede Beimischung von Groll oder Bitterkeit. War es denn ihre Schuld, daß alles so gekommen war? Nein, sie war immer gut und herzlich gewesen! Ihr anmuthiges kluges Gesicht schwebte ihm vor. Er hatte sie doch aufrichtig gern gehabt und es that ihm leid, nun für immer scheiden zu müssen. ohne ihr das, was sie um seinetwillen erlitten hatte, auch nur mit einem Wort abbitten zu können. Aber was sollte er thun?

So lebhaft war die innere Bewegung des in seine Gedanken Vertieften, daß er jetzt stehen blieb und nachdenklich vor sich hinstarrte. Sollte er sie etwa heirathen? Unsinn! Er wußte ja nicht einmal, wie er sich in Zukunft allein durchbringen würde! Und ganz abgesehen davon – sie war im Grunde doch nur eine . . . na, eine Arbeiterin, viel mehr nicht. Und dann der Bruder, der Deserteur, der davongelaufene Sträfling, der wahrscheinlich eines Tages durch Schub zurückgebracht wurde!

Er erhob die Augen und blickte unentschlossen die Straße hinab. Da, keine hundert Schritte entfernt, stand das einstöckige Häuschen, durch dessen Thür er sie so oft hatte verschwinden sehen. Er erinnerte sich des letzten Abends, an dem er sie in der Dunkelheit bis hierher begleitet hatte, noch in voller

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