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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Es ist nicht möglich,“ sagte er leise, als spräche er mit sich selbst.

„Sie wollten die Wahrheit von mir – das ist sie!“

„Sie glauben mir, daß ich Sie liebe – um Ihretwillen liebe?“

„Um meinetwillen, nur um meinetwillen – Ihnen kann ich das glauben!“

„Dann lieben Sie mich, wie ich Sie liebe!“

„Ja, Gevatter!“ erwiderte sie, unter Thränen lächelnd.

Eine Pause. Seine zitternde Hand sucht das Weinglas – ganz leise stoßen sie mit einander an. Ueber Annaliese kommt ein Gefühl des Geborgenseins, so schön, so süß – sie möchte die Augen schließen und träumen, sie möchte ihr Haupt an seine Brust legen und weinen. Aber sie darf beides nicht, sie muß ihre seligen Thränen niederzwingen und ihre Träume verschieben.

Gregory ist viel aufgeregter als sie; sein Herz schlägt stürmisch, sein Athem fliegt. Er sieht nicht seinen Freund Gustav, der sein Sektglas hochhebt und ihm zutrinkt, nicht Frau Melanie, die sich umsonst räuspert, um einen Blick von ihm aufzufangen, nicht Steinhausen, der seinen Bart mißhandelt und zornig zu ihm herüberschaut – nur sie, nur sie!

„Annaliese!“

„Paul!“

Viel mehr sagen sie nicht zu einander – es schadet nichts. Vor ihnen liegt ein langes und glückliches Leben, so hoffen sie bestimmt . . . Gelegenheit genug, sich vieles, vieles zu sagen!

Was sie essen und trinken, weiß keines von ihnen. Was Annaliese dem Assessor, der eifrig in sie hineinspricht, und Gregory dem Fräulein von Herzen, das ihn von links her allerlei fragt, zur Antwort giebt – das wüßten sie beide nicht zu sagen, und wenn es um ihr Leben ginge. Sie klingen mit ihren Gläsern an die des Oberlehrers und seiner Frau, es fährt ihnen flüchtig durch den Sinn, die beiden könnten wohl etwas ahnen, denn sie lächeln so merkwürdig – eine halbe Minute darauf gedenken sie dessen nicht mehr. Unter dem Tafeltuch haben sich ihre Hände gefunden und lassen einander nicht mehr los – Annaliesens kleine Linke wird feuerroth unter dem heftigen Druck von Pauls Hand, aber sie läßt sie ihm, sie ist auch darüber glücklich.

Endlich! Die Musik setzt ein, man hebt die Tafel auf. Verbeugungen ohne Ende. Gregory hat Gelegenheit, Annaliesens Hand zu küssen, und er macht von dieser Erlaubniß einen so aufallenden Gebrauch, daß ihr wirklich nichts übrig bleibt, als ihm die Hand zu entziehen; aber gleich darauf legt sie dieselbe in seinen Arm, und das Paar schreitet selbander dem Tanzsaal zu. An der Thür tritt ihnen Steinhausen entgegen, er hat hier auf sie gewartet.

„Mein gnädigstes Fräulein, ich sah Sie bei Tisch derartig vertieft in Ihr Gespräch, daß ich es nicht wagen durfte, Ihnen lästig zu fallen. Dürfte ich mir jetzt vielleicht die Frage erlauben, wann es mir vergönnt sein wird, Sie in einer wichtigen –“

Annaliese läßt ihn nicht zu Ende sprechen; er hat zwar seine Stimme so gedämpft , daß nur sie seine Worte verstehen konnte, aber es widerstrebt ihrem Gefühl, ihm weiter zuzuhören.

„Auch ich, Herr von Steinhausen, habe Ihnen Wichtiges mitzutheilen,“ fällt sie ihm in die Rede, „für mich das Wichtigste, was es geben kann, und Sie, der alte Bekannte aus der Heimath, sollen der Erste sein, der es erfährt. Ich habe mich mit Herrn Professor Gregory verlobt.“

Der schöne Husarenlieutenant konnte auf dies Ereigniß vorbereitet sein – die beiden hatten während des Essens wenig genug Selbstbeherrschung gezeigt, namentlich der Professor hatte sich sträflich auffallend benommen; dennoch verlor der glänzende Offizier der vollendeten Thatsache gegenüber fast seine Fassung. Er hatte immer noch gedacht, es könne nicht sein, und sobald er erst einmal ernstlich um Annaliese werbe, sei ihm der Sieg über einen solchen Gegner trotz allem sicher; er hatte um dieses Mädchens willen die weite Reise unternommen, sie hielt seine ganze Zukunft in ihrer Hand – und nun?

Mit Mühe bewahrte er eine leidliche Haltung, aber die zwei Worte: „Meinen Glückwunsch!“ gingen ihm schwer über die Lippen. Dann trat er mit einer tiefen Verbeugung beiseite. Auf die Unterredung wegen der wichtigen Angelegenheit kam er mit keiner Silbe mehr zurück.

Fünf Minuten später hatte der Lieutenant von Steinhausen den Ballsaal verlassen.


11.

Die alte Excellenz von Guttenberg hatte ihrer Kousine Kunigunde von Wettersbach soeben die dritte Partie Bézique abgewonnen und war darob sehr guter Laune. Sie verlor ungern – „verlieren kann jeder Narr,“ pflegte sie zu sagen, „aber zum Gewinnen gehört Witz.“ Nun hatte sie ihren Witz wieder glänzend bewiesen und befriedigt lehnte sie sich in die Sofaecke zurück. Fräulein von Wettersbach nahm resigniert ihre Handarbeit wieder auf, und eine Zeitlang war es still im Zimmer. Die Uhr zeigte gerade die sechste Nachmittagsstunde.

„Auf die Männer ist kein Verlaß!“ begann die Generalin in strengem Ton.

Die Stiftsdame sah fragend von ihrer Arbeit auf.

„Von dem Volk der Civilisten will ich noch absehen,“ fuhr die Excellenz in derselben Weise fort. „Das kennt keine Disciplin, das hat den Ehrbegriff nicht so im Blut, das redet in den Tag hinein, ohne die Tragweite seiner Worte zu überlegen, eben weil es nicht gewöhnt ist, dafür einzustehen – aber beim Militär kennt man es anders, und ich muß sagen, es ist eine Enttäuschung für mich, daß ich das erleben muß.“

„Was denn, liebe Klementine?“

„Ich hatte ihnen beiden aufgetragen, mir Nachricht zu geben, sowohl meinem Neffen Paul Gregory als dem Lieutenant Steinhausen. Annaliesens Briefe sind mir verdächtig, ich will genau wissen, was sie dort thut und treibt, ob sie meinen Wünschen nachkommt – das sollte mir Paul schreiben. Und Steinhausen versprach mir, das Eisen sofort zu schmieden, sowie er nach Königsberg käme, und er ist gewiß der Mann dazu. Sobald er Annaliesens Jawort hatte, sollte er mir eine Depesche schicken. Nun, er ist seit vier Tagen fort – es kommt kein Brief von Paul, es kommt keine Depesche von Steinhausen! Deshalb sage ich: auf die Männer ist kein Verlaß! Daß ich aber das an einem Offizier, an einem meiner Adjutanten erleben muß, siehst Du, Kunigunde, das ist’s, was mich schmerzt!“

„Vielleicht will Dich das Brautpaar überraschen,“ wandte die Stiftsdame ein.

„Wenn Steinhausen mir ein Telegramm verspricht, so hat er mir ein Telegramm zu schicken und keine Ueberraschung! Ich bin ja auf die Verlobung durchaus vorbereitet –“

Draußen war ein Wagen vorgefahren, und es hatte heftig geläutet. Jetzt öffnete die Kanapé mit einem wichtigen und erfreuten Gesicht sperrangelweit die Thür des Zimmers . . . im Rahmen dieser Thür stand Annaliese neben dem Professor Gregory.

Dieser Anblick befremdete die alte Generalin keineswegs – das heißt, sie war erstaunt, ihre Enkelin schon heute, schon jetzt hier zu sehen, aber daß sie Annaliese sah, war ja der beste Beweis, daß ihr Herzenswunsch sich erfüllt hatte. Und Paul Gregory? Ja, der hatte natürlich den Reisemarschall gemacht, da man die Kanapé nicht rechtzeitig hatte entbieten können! Sehr gefällig und verständig von dem Besten, dem jungen Mädchen diesen Dienst zu leisten; das Brautpaar allein in der Welt herumreisen zu lassen, wäre ja der Gipfel der Unschicklichkeit gewesen! Daß der Professor noch nach Litanen hatte gehen wollen, fiel der Generalin weiter nicht ein . . . was gingen sie Pauls Studien an? So war sie ihm denn dankbar, recht dankbar.

„Da bist Du ja, meine Kleine!“ rief sie herzlich und erhob sich vom Sofa. „Komm, mein Kind – so, laß’ Dich küssen und anschauen, Du siehst ja wohl und munter aus! Ich muß Dir sagen, ich bin doch froh, daß Du wieder bei mir bist – ich vermißte Dich recht, trotzdem ich meine gute Kunigunde bei mir habe. Mit Dir kommt die Freude ins Haus, diesmal eine doppelte Freude, das lob’ ich mir! Nun, und wo ist Steinhausen?“

Ueber Annaliesens Gesicht zuckte ein muthwilliges Lächeln.

„Steinhausen?“ wiederholte sie. „Nun, der ist, soviel ich weiß, schon gestern abend hier eingetroffen.“

„Nicht möglich! Und hat sich nicht bei mir gemeldet? Hat mir nicht die Verlobung angezeigt?“

„Das heißt wirklich etwas zuviel von ihm verlangen, Großmama, soviel Selbstverleugnung hat Steinhausen nicht. Möchtest Du nicht Paul begrüßen?“

Es fiel der Excellenz in ihrer Erregung nicht auf, daß ihre Enkelin den Professor Gregory „Paul“ nannte – sie war ganz

außer sich über Steinhausen. „Paul? Gewiß – natürlich – wie geht’s Dir, mein lieber Paul? Du siehst ja vortrefflich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 702. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_702.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2022)