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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Dann muß ich freilich zurückstehen.“ Der Lieutenant maß den Sprecher mit einem hochmüthigen geärgerten Blick – das war ja ein unangenehmer Mensch, dieser Professor Gregory – er war ihm aber damals schon zuwider gewesen, als er neben Annaliese am Wagenschlag lehnte und nachher die beiden so unausgesetzt mit einander sprachen.

Die drei jungen Mädchen hatten mit fieberndem Interesse zugehört – das klang wie in Romanen, so herausfordernd, so scharf – und alles wegen Annaliese! Wie die sich vorkommen mußte! Zwei der jungen Dämchen fanden den blonden, aristokratischen Offizier so bezaubernd, daß sie es nicht begriffen, wie Annaliese ihm nicht zu Hilfe kommen und der Professor ihm nicht ohne weiteres das Feld räumen konnte. Die dritte freute sich über Annaliese wie über Gregory – sie hatte so ihre eigenen stillen Gedanken.

Steinhausen stellte dann noch ein paar Kameraden vor, deren Bekanntschaft er hier in Königsberg gemacht hatte; die Herren bedauertem unendlich, daß die Tanzkarte der Baroneß gefüllt sei, hofften auf Extratouren und engagierten die Pensionsfreundinnen. Sehr unangenehm war ihnen allen dieser Professor, der nicht von Annaliesens Seite wich und wankte, den sie immer wieder ins Gespräch zog und zu dem sie oft mit einem Blick emporsah, den sie für keinen andern übrig hatte. Man fragte heimlich bei Steinhausen an, was denn das eigentlich für ein Mensch sei und was er wolle – der Gefragte hob die Achseln, wußte nichts weiter, als daß jener ein Verwandter der alten Excellenz Guttenberg, folglich auch ihrer Enkelin sei und sich auffalleud zudringlich und anmaßend betrage, denn Chancen wären keine für ihn da, das habe die alte Excellenz wieder und wieder aufs nachdrücklichste versichert.

Der Ball nahm seinen Fortgang. Mitunter erhob sich Frau Claassen, die neben einer „Frau Kollegin“ einen angenehmen Platz hatte, von ihrem Stuhl und beobachtete beunruhigt ihre Schutzbefohlene, Annaliese von Guttenberg. Sie freute sich ja, daß das Mädchen so sehr gefiel, sie hatte das auch nicht anders erwartet – aber wirklich, Annaliese tanzte zuviel, sie als Pensionsmutter durfte das eigentlich nicht leiden. Immer aus einem Arm in den andern – wollte man sie denn tot tanzen? Frau Melanie kam nicht zur Ruhe, sie war in einem beständigen Wechsel zwischen Aufstehen und Sichsetzen begriffen, ihre Sorge um Annaliesens Gesundheit kämpfte mit einer wahrhaft mütterlichen Freude an des Mädchens Erfolgen – sie gönnte ihr so herzlich diese Triumphe, „an die sie wahrhaftig nicht gewöhnt sein wird, sie ist ja von Hause aus so arm und nach dem Tode der Großmutter darauf angewiesen, sich selbst durchs Leben zu helfen“ – so äußerte sich die Frau Oberlehrer in vertraulichem Ton gegen ihre Nachbarin.

Paul Gregory hatte nicht viel von Annaliese, das mußte er sich sagen. Aber sie wußte ihn zu entschädigen. Mit bewundernswerther Raschheit und Geschicklichkeit verstand sie es, ihm ein tröstendes Wort, einen strahlenden Blick zuzuwerfen und ihn so wunderbar mit den Qualen der Eifersucht und des Verlassenseins auszusöhnen. Was für herrliche Augen das Mädchen hatte! Paul überließ sich widerstandslos ihrem Zauber, er dachte nicht an die Zukunft, nicht einmal an den morgenden Tag – war das Heute, das Jetzt nicht genug? Annaliese tanzte leidenschaftlich gern, das hatte sie ihm gesagt, und das sah man ihr auch an – es war eine Lust, ihr zuzuschauen. „So tanze denn, schöner Schmetterling, tanze – aber komm’ zurück zu mir; ohne Dich ist es öde um mich und in mir!“ Das dachte Gregory, und da war Annaliese auch schon wieder bei ihm, zutraulich und lächelnd; er nahm ihren Fächer und wehte ihr Kühlung zu und neigte seine durstigen Lippen tiefer, tiefer, bis sie beinahe das krause Gezitter der dunklen Löckchen berührten.

„Gevatter, nun eines noch!“ Im raschesten Tempo erklang ihre leise Stimme – der nächste Tänzer wartete schon. „Es wird bald zu Tisch gehen – Sie führen mich ja, aber sorgen Sie um Gotteswillen, daß Steinhausen nicht an meine andere Seite kommst, er versucht das jedenfalls. Das darf aber nicht sein, sonst hab’ ich keine ruhige Minute. Holen Sie den Assessor – Sie wissen schon – oder den blonden Referendar, einerlei, wen! Nur, bitte, sprechen Sie in ruhigem Ton zu Steinhausen, wenn sich’s so fügt, daß Sie mit ihm reden müssen! Nicht so schroff – um meinetwillen! Ich muß gar zu viel Angst ausstehen um Sie, daß Sie mit ihm Streit bekommen!“

So, das war wieder eine Entschädigung und wahrlich keine schlechte! Das „Angst um Sie“ klang wie Musik in Pauls Ohren, und der Blick, der diese Worte begleitet hatte, legte sich wie Balsam auf sein heißes Herz. Aber nun mußte ihr Auftrag vollführt werden. Zum Glück entdeckte er den Assessor in seiner Nähe und fand diesen Herrn sehr erfreut über das Ansinnen, an Fräulein von Guttenbergs rechter Seite zu sitzen. Er hatte Luise Degen zur Dame, das paßte wundervoll.

Der Lieutenant von Steinhausen war natürlich anderer Meinung. Seine Brauen zogen sich finster zusammen, und sein schönes Gesicht hatte den Ausdruck glatter Freundlichkeit, den es für gewöhnlich trug, ganz verloren, als er die Anordnung gewahrte, welche ihn der Tischnachbarschaft Annaliesens beraubte. Mit Mühe vermochte er für sich und seine Dame, eine junge Adlige, die ihm einer der Kameraden vorgestellt hatte, zwei Plätze zu erobern, die denen des Professors und des Fräuleins von Guttenberg schräg gegenüber lagen – so konnte er sie und den „fatalen Menschen“ wenigstens im Auge behalten, und dies Auge blickte drohend genug.

Die beiden, denen die Drohung galt, kümmerten sich herzlich wenig darum – sie waren bei einander, das war ihnen genug. Für alle übrigen Mitmenschen saßen sie offenbar im Speisesaal des Junkerhofes zu Königsberg, an einer der langen Tafeln mitten unter mehreren hundert anderen Leuten, die sich’s allesamt wohl sein ließen, . . . ihrem eigenen Empfinden nach waren sie allein, saßen sie auf der kleinen Glückseligkeitsinsel, von welcher Longfellow so hübsch singt, und alles um sie her war nichts als Beiwerk.

Oberlehrer Claassen und seine Frau wechselten vergnügte Blicke; der heutige Abend schien sie ihren stillen Wünschen in Bezug auf die Zwei bedeutend näher zu bringen. Herr Gustav Claassen war ohnehin in rosiger Laune: er hatte sich in einen ziemlich hohen Skat eingelassen und nicht ohne Besorgniß daran gedacht, daß es für einen soliden Gatten und vierfachen Familienvater eigentlich recht leichtsinnig sei, solche Wagestücke zu unternehmen. Wie, wenn er verlor! Aber nein, er gewann, gewann nach seinen Begriffen sogar bedeutend, Und nun saß auch noch „sein Paar“ in seiner Nähe und benahm sich ganz ähnlich, wie er und seine Melanie es gethan hatten, ehe sie sich verlobten! Der Oberlehrer lachte in seinen Bart hinein und bestellte Sekt . . . Mit einem schlauen Blinzeln seiner freundlichen Augen schob er den beiden die geschliffenen Kelche zu, in denen es aufschäumend perlte.

„Nun, worauf wollen wir trinken?“ fragte Annaliese und drehte das Glas leicht zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.

„Ich wüßte schon etwas –“

„Auf gute Freundschaft, meinen Sie?“

„Nein, bewahre!“ Gregory schüttelte so entrüstet den Kopf als sei Annaliesens Freundschaft eine Beleidigung für ihn. „Ich möchte mit Ihnen auf die Wahrheit anstoßen!“

„Auf die Wahrheit?“

„Ja – auf sie, die so oft in dieser Welt zu kurz kommt, der Sie aber zum Sieg verhelfen wollen, denn, nicht wahr, Sie sind doch fest entschlossen, dem Lieutenant von Steinhausen die volle Wahrheit zu sagen?“

„Ich muß wohl, wenn nicht . . . vielleicht läßt sie sich doch noch umgehen!“

„Umgehen? Annaliese, das ist Ihrer nicht würdig! Sie sind so offen – ich – ach, ich möchte Ihnen vieles sagen –“

„Und warum sagen Sie es nicht?“

„Weil ich es nicht wage – weil ich weiß, wie Sie sind, wie Sie sich in den Verdacht festgerannt haben, jeder, der Kenntniß davon habe, wer Sie in Wirklichkeit seien, handle in schnödester Berechnung. Sie gaben mir das noch heute Vormittag deutlich genug zu verstehen . . . wie sollte nun ich, gerade ich –“

„Und wenn ich nun antworte: eben Sie, gerade Sie?“

Um Annaliesens Mund zuckte es, und ihre Stimme klang umflort, Gregory starrte sie an wie ein Traumbild, das Herz wollte ihm fast still stehen. Was – was hatte sie soeben gesprochen? Er vergaß buchstäblich, wo er war – er sah nur sie, hörte nur sie! Weit beugte er sich zu ihr hinüber und sah ihr in die Augen. Sie waren groß zu ihm aufgeschlagen und füllten sich langsam mit Thränen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 700. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_700.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2022)