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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


„Leider kein Goldkäferchen!“ seufzte Gerwald mit der Miene eines geschlagenen Mannes. „Und dabei so hervorragend unterhaltend und hübsch! Aber soll rein gar nichts von Mammon dabei sein – ein Skandal!“

„Na, einen Tanz kann man immer wagen! Bitte, stellen Sie mich doch vor!“

„Mich können Sie auch gleich mitnehmen!“ sagte ein blonder Jüngling, der neben den beiden stand. „Unsereins sieht auch gern ’was Hübsches! Ob sie gut tanzt?“

„Was gut Schlittschuh läuft, das tanzt auch gut,“ bemerkte der Assessor sachverständig und nähm die beiden ins Schlepptau.

„Annaliese hat ihre Tanzkarte gleich voll!“ flüsterte Luise Degen ihrer Nachbarin zu.

„Sie ist auch weitaus die Hübscheste von uns,“ antwortete diese, eine begeisterte Verehrerin der Besprochenen.

Die ersten Takte der Polonaise erklangen, Paul Gregory holte seine Tänzerin ab. „Wie ist Ihnen zumuth?“ fragte er sich niederbeugend, und drückte unwillkürlich den zarten runden Arm, der in dem seinen lag, leise an sich.

„Wundervoll!“ gab sie mit einem strahlenden Aufblick zurück. „Ihnen doch auch?“

„J – – ja! Mit Vorbehalt! So ganz ungetrübt –“

„Denken Sie sich,“ fiel sie ihm mit erregtem Flüsterton ins Wort; „ich muß Ihnen das rasch erzählen, ehe ich’s vergesse – heute mittag, als ich von der Malstunde heimkam, sagte der Oberlehrer mit einem ganz sonderbaren Gesicht zu mir, er habe eine Ueberraschung für mich, heute abend würde er sie mir vorsetzen. Ich that ungeheuer neugierig und bat und fragte und suchte zu rathen, aber es half mir alles nichts, er lächelte verschmitzt und schwieg. Hat Ihr Freund Ihnen etwas davon gesagt?“

Die Musik schmetterte brausend, der Zug setzte sich in Bewegung.

„Nein, kein Wort! Ich habe Claassen auch nur flüchtig begrüßt, seit gestern abend nicht gesprochen.“

„Ahnen Sie, was es damit sein kann?“

„Nicht im geringsten – haben Sie eine Idee?“

„Keine bestimmte – ich dachte schon . . . ah!“

Annaliese war merklich zusammengezuckt; ihr strahlendes Gesichtchen hatte einen erschrockenen Ausdruck bekommen.

„Was haben Sie denn? Um Gotteswillen, was ist?“

„Sehen Sie denn nicht? Da rechts an der Wand, wo die nicht tanzenden Herren stehen – wir kommen jetzt nahe vorbei, ich muß mir den Anschein geben, als ahnte ich nichts. Der vierte Herr, vom Pfeiler an gezählt, neben dem Herrn mit dem brandrothen Vollbart . . .“

„Ich sehe! Das ist ja . . .“

„Still! Keinen Namen nennen!“

Die beiden wandelten würdevoll im gemessenen Taktschritt der Polonaise an dem Bezeichneten vorüber, anscheinend sehr in ihr Gespräch vertieft, ohne rechts und links zu sehen. Der „vierte Herr vom Pfeiler an“ war eine schlanke schöne Erscheinung in blauer Husarenuniform – hier doppelt auffällig – neben ihm stand noch ein Offizier, mit dem er dann und wann einige Worte wechselte.

Steinhausen! Wahrhaftig, Konstantin von Steinhausen, kein anderer! Das also war Claassens Ueberraschung! Ohne Zweifel hatte ihm der Offizier heute vormittag, während Annaliese ahnungslos mit dem Professor vor dem Königsthor spazieren ging, seinen Besuch gemacht, sich eine Einladung zum Abend erbeten und den Wunsch ausgesprochen das Freifräulein von Guttenberg mit seiner Anwesenheit zu überraschen. Wie das dem guten Oberlehrer vorkommen mochte: ein armes adliges Fräulein und ein Husarenoffizier! Gleichviel!

Es lag auf der Hand, weswegen Steinhausen die weite Reise bis nach Königsberg gemacht hatte – das wußten die beiden, die Arm in Arm inmitten der Polonaise an ihm vorüberschritten, ganz genau. Es war zu Ende mit dem Hinhalten und Ausweichen – Konstantin von Steinhausen wollte endlich Gewißheit haben, und es gab hier kein Entschlüpfen. Wenn Steinhausen den Oberlehrer Claassen bat, – er möge ihm zu einer Unterredung unter vier Augen mit der Baroneß Guttenberg verhelfen, konnte das junge Mädchen dann sich dessen weigern?

(Schluß folgt.)

Natur und Kunst beim Arzte.

Von Prof. Dr. L. Büchner.


Es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß ebenso oft, wie die Kultur oder die allgemeine Verfeinerung der Sitten und Lebensgewohnheiten einen starken Schritt nach vorwärts thut, sich eine Reaktion dagegen im Sinne einer sogenannten „Rückkehr zur Natur“ geltend macht – und zwar macht sich diese Reaktion auf fast allen Gebieten menschlichen Seins und Denkens mehr oder weniger bemerkbar. Im vorigen Jahrhundert war es Rousseau, welcher diesem Reaktionsstreben einen ebenso lebendigen wie nachhaltigen Ausdruck gab. Aber die Zeit ging über ihn und die ganze, von ihm angeregte Bewegung ebenso zur Tagesordnung über, wie sie über so vieles andere bereits zur Tagesordnung übergegangen ist – ohne daß das Thema selbst damit aus der Welt geschafft wäre. Sehen wir es doch in der Gegenwart selbst wieder seinen alten Rundgang antreten und unserer ganzen Kulturentwicklung eine Art von Krieg ansagen. Wir finden den Beweis dafür auf dem Gebiete der Philosophie in der Wiederheraufbeschwörung des wilden Animismus und Geisterglaubens, durch den immer mehr an Ausbreitung gewinnenden Spiritismus; ferner auf dem Felde von Kunst und Poesie in dem jetzt herrschenden und förmlich zur Modesache gewordenen Naturalismus; auf dem Boden der Medizin endlich, von welcher hier speciell die Rede sein soll, in der jetzt mit so großer Anmaßung auftretenden und so viele Geister gefangen nehmenden Naturheilkunde. Wenn es nach den Lobrednern dieser Richtung ginge, so müßte alles, was die medizinische Wissenschaft seit Jahrtausenden unter Mühen und Opfern aller Art zu Tage gebracht hat, ausgestrichen und die ganze Kunst des Heilens der Krankheiten von vorne an neu gelernt werden. Das ist freilich sehr bequem für solche, welche nicht, wie der gebildete Arzt, ihr halbes Leben dem eingehenden Studium der Natur des Menschen sowohl wie der Einflüsse seiner Umgebung gewidmet haben, sondern an dem speciellen Begriff der Natur, den sie sich selbst zurecht gemacht, genug zu haben glauben. Was kann aber derjenige von der Natur wissen, der sie nicht gründlich studiert hat? Es ist himmelschreiend, welcher Mißbrauch mit dem Achtung gebietenden Wort „Natur“ von solchen getrieben wird, welche diese „Natur“ entweder gar nicht oder nur vom Hörensagen kennen. Die Naturheilkünstler hoffen alles von der Allmacht des kalten Wassers, weil sie dasselbe für ein Naturprodukt halten, sie denken aber nicht daran, daß die Arzneien, welche sie mit so grimmigem Haß verfolgen, ebenfalls entweder selbst Naturprodukte oder aus solchen hergestellt sind. Warum sollte also dasjenige, was uns die Natur selbst darbietet, nicht zu unserem Nutzen verwendet werden. Wenn sie sich aber darauf berufen, daß sie neben den kalten auch das warme oder heiße Wasser benutzen, so verdient eine solche Anwendung gewiß mehr den Namen einer künstlichen als einer natürlichen Einwirkung.

Daß wir überdem die Natur durch die Kunst zu verbessern, zu veredlen und unsern Zwecken besser dienstbar zu machen imstande sind, ist eine Sache so alltäglicher Erfahrung und Erkenntniß, daß jedes weitere Wort darüber als überflüssig erscheint. Haben ja doch wir Menschen selbst uns nach und nach im Laufe langer Zeiten und zahlloser Geschlechter aus rohen, schmutzigen Wilden langsam und mühselig zu der Stufe des civilisierten Menschen emporgearbeitet und sind auf diese Weise zu ganz anderen und anders gearteten Wesen geworden, als diejenigen waren, welche ursprünglich aus den Händen der Natur hervorgegangen sind! Daher haben wir auch unsere Lebensgewohnheiten und Lebensbedürfnisse ganz anders einzurichten als der rohe Naturmensch. Der Standpunkt, auf dem sich die Naturheilkunde theoretisch bewegt, könnte nur dann Berechtigung haben, wenn es der Forschung gelungen wäre, das ehemalige Dasein des „adamitischen“ Menschen nachzuweisen, d. h. eines Menschen, welcher als vollkommenes und vollkommen mit der Natur im Einklang besindliches Geschöpf in das Leben getreten und von diesem erhabenen Standpunkt später

herabgestürzt worden wäre, um in verkünstelten oder unnatürlichen Zuständen weiter zu leben. In einem solchen Falle könnte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_686.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2022)