Seite:Die Gartenlaube (1893) 669.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Nr. 40.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Ein Lieutenant a. D.

Roman von Arthur Zapp.


Frau Wagner lauschte mit angehaltenem Athem nach der Kammerthür hin. Was war das? Das klang nicht wie das ruhige Athemholen eines sanft Schlummernden, eher wie das dumpfe Röcheln eines Schwerkranken. Voll Unruhe erhob sie sich um in die Kammer hinüberzugehen. Aber da war es schon wieder still. Hatte ihre krankhaft erregte Einbildungskraft ihr wieder einmal einen Streich gespielt? Seit dem jähen Tod ihres Mannes litt sie an trüben Ahnungen, die nicht selten zu völligen Sinnestäuschungen wurden.

Die blasse Frau, die, trotzdem sie kaum das fünfzigste Jahr erreicht hatte, ganz das Aussehen einer gebrechlichen, vom Alter gebeugten, lebensmüden Greisin hatte, setzte sich wieder und nahm ihr Strickzeug vor. Aber die gewohnte Arbeit wollte ihr heute nicht so rasch wie sonst von der Hand gehen. Ihre flinken Finger machten häufige Pausen und ruhten ganze Minuten lang müßig im Schoß, während sie, vornübergebeugt, das Ohr nach der kleinen Kammer hin neigte, in der ihre einzige Tochter Klara sich vor einer Viertelstunde zum Schlaf niedergelegt hatte. Welche Sorge ihr das Mädchen machte! Seit Wochen trug Klara ein so sonderbares Wesen zur Schau, sie, die immer das Muster eines guterzogenen, fleißigen und braven Mädchens gewesen war. Bald war sie lebhaft, mit einem eigenen Schimmer großen Glückes in den dunklen Augen, heiter bis zur Ausgelassenheit, dann wieder, ohne Uebergang, ohne ersichtlichen Grund, in sich gekehrt, grüblerisch und zerstreut. Fragen, die man dann stellte, beantwortete sie entweder mit einem fröhlichen Lachen – sie sei ja jung, warum sollte sie nicht lustig sein – oder sie begegnete ihnen mit einer ganz ungewohnten nervösen Gereiztheit: die Mutter solle sie nicht quälen; du lieber Gott, man könne doch nicht immer vergnügt sein. Und nun heute vollends! Klara war in einem wahrhaft erschreckenden Zustand nach Hause gekommen, bleich, das Gesicht verzerrt wie von einem inneren Krampfe. Das Abendbrot hatte sie unberührt stehen lassen und mit matter tonloser Stimme erklärt, früh ins Bett zu wollen. Die Mutter solle sich nicht beunruhigen, sie sei nur furchtbar ermüdet und habe heftiges Kopfweh. Im Geschäft – sie war Buchhalterin in einer der großen Fabriken der Dammvorstadt – habe sie heute außergewöhnlich viel Plackereien gehabt, dazu Verdruß und Aerger mit dem Prinzipal. Deshalb sei sie auch zeitiger nach Hause gegangen.

Als Frau Wagner ihre Tochter in die Kammer begleitet und sich angeschickt hatte, ihr beim Auskleiden behilflich zu sein, immerfort fragend und klagend, da hatte Klara heftig abgewehrt und mit beiden Händen


Der Marienplatz in München.
Nach einer Originalzeichnung von Hans Bartels.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 669. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_669.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)