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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Als er alles berichtet hatte – die Jugendgeschichte Paulinens, ihr Leben in Glück und Glanz, den Ruin ihres Gatten, die Hingebung, die sie ihm im Unglück gezeigt; ihre Prüfungen, den Kampf, den es ihr nach dem Tode ihres Mannes gekostet hatte, diese Stelle als Büffettdame anzunehmen; wie sie selbst heute noch leide unter der Pein ihres so berühmten und so demüthigenden Daseins und wie sie doch das alles geduldig trage in der Liebe für ihr Kind – da drückte der bis zu Thränen gerührte junge Mann dem Arzt krampfhaft die Hand und sagte mit unsicherer Stimme: „Ich danke Ihnen, Herr Doktor, ich danke Ihnen von ganzem Herzen! Und nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Vielleicht hören Sie noch mehr von mir.“ Damit grüßte er und verschwand hastig in der Dunkelheit.

Doktor Destrée schaute ihm nach, etwas verblüfft über diese Art, kurzweg davonzugehen. Hatte er recht gethan, dem seltsamen Menschen diese Mittheilungen zu machen? Nach einigem Nachdenken hielt er es für das beste, Paulinen von dem Vorgefallenen sogleich Mittheilung zu machen.

Er hatte befürchtet, durch die Offenherzigkeit, zu der er sich hatte hinreißen lassen, ihren Unwillen zu erregen, aber zu seiner großen Ueberraschung war sie gar nicht ungehalten. Ja sie schien eher erfreut über seine Erzählung und hörte ihm mit offenbarem Antheil zu.

Pauline konnte und wollte sich keine Rechenschaft geben über die fieberhafte Aufregung, mit der sie am nächsten Tag das gewohnte Erscheinen ihres Ritters erwartete. Wie oft blickte sie nach der Thür, wie oft nach seinem gewöhnlichen Platze! Aber vergebens. Er erschien weder heute noch an den folgenden Tagen.

„Was hat nur Madame Pauline?“ fragten sich die alten Stammgäste des Lokals in den nächsten Wochen und Monaten. „Sie ist wie umgewandelt. Früher so gleichmüthig heiter – und jetzt! Sie muß einen schweren Kummer haben, die arme Frau, oder – eine tiefe Liebe!“


6. Das Glück.

So ging es sechs Monate hindurch. Selbst die Gedankenlosesten bemerkten, wie Paulinens Schönheit ihren blühenden Glanz, ihre strahlende Frische zu verlieren schien. Aber niemand, selbst Doktor Destrée nicht, kannte den Grund, niemand ahnte, wie es in ihrem Herzen aussah. Sie grollte mit sich selbst und mit dem Fremden, dem sie über sein gänzliches Verschwinden bittere Vorwürfe machte. Und doch mußte sie sich immer wieder sagen, daß sie ungerecht gegen ihn sei, daß sie ihm jenen Ritterdienst nicht so danke, wie er es verdiene. Hatte ihr der Fremde denn jemals ein Versprechen gemacht, war er jemals in nähere Berührung mit ihr getreten? Hatte er sich ihr seit jenem unglückseligen ersten und letzten Male je wieder genähert? Und daß er sich bei dem Doktor nach ihr erkundigt hatte, war eben Theilnahme gewesen, sonst nichts! Jetzt war er abgereist oder hatte sich ein anderes Stammlokal gesucht und dachte wohl gar nicht mehr an sie zurück.

Dann aber erfaßte sie wieder eine jähe Angst. Er war sicher krank – oder gestorben! Er hätte sonst nicht so für immer die Nähe einer Person meiden können, die er so wacker in Schutz genommen, die in seinen Augen so viel Achtung und – Zuneigung gelesen hatte. Ach, und auch ihm konnte es ja nicht verborgen geblieben sein, daß er der einzige Mensch sei, welcher der armen Vereinsamten inmitten dieser oberflächlichen Menge nicht gleichgültig war!

So zwischen stillen Vorwürfen und Entschuldigungen in ewiger Unruhe hin und her geworfen, sah Pauline fast mit Freude den Termin nahen, bis zu dem sie noch an das Geschäft des Herrn Mussault gebunden war; sie ersehnte mit aller Macht den Augenblick, wo sie wieder ein stilles unbeachtetes selbständiges Leben beginnen konnte. Sie wollte unter keinen Umständen etwas von einer Verlängerung ihres Vertrags wissen, auch unter den glänzendsten Bedingungen nicht.

Seit dem Tage, an dem sie zum ersten Mal ihren Platz am Büffett eingenommen, hatte sie ihre wachsenden Einnahmen mit wahrhaft geiziger Sparsamkeit zurückgelegt und verfügte nun über eine jährliche Rente von sechstausend Franken – das war übergenug für sie und ihren Knaben.

Als Herr Mussault das Vergebliche seiner Bemühungen einsah, beschloß er, wenigstens den einzigen noch übrigen Monat seiner Verbindung mit Pauline auf jede Weise auszunutzen. So fand man denn überall angekündigt, daß die schöne „Limonadière“ schon in den nächsten Wochen das Palais-Royal für immer ver1assen werde.

Man kann sich denken, daß sich nun noch einmal ganz Paris herandrängte, um die berühmte Büffettdame zu sehen, zu bewundern; das Palais-Royal konnte wie in jenen ersten Zeiten die Anzahl der Neugierigen kaum fassen, und man zerbrach sich vergeblich den Kopf, was für Beweggründe Madame Pauline haben könne, sich so plötzlich zurückzuziehen.

Eines Tages, als Frau van Eyckens aus der Pension zurückkehrte, wo sie ihren Knaben besucht hatte, fand sie einen Brief des Doktors vor, in dem er sie zum Abendessen einlud; seine Frau und er hätten Wichtiges mit ihr zu besprechen, Pauline hatte schon längst dem Publikum und Herrn Mussault gegenüber sich eine größere Freiheit gewahrt; wenn irgend ein erheblicher Grund sie abhielt, ihren Platz im Kaffeehaus einzunehmen, so ließ sie einfach absagen. Das that sie auch an diesem Tage, wo die Einladung des Doktors sie in eine unerklärliche Aufregung versetzte.

Bei Destrée fiel Paulinens erster Blick auf einen fremden alten Herrn, der seit ungefähr acht Tagen regelmäßig das Kaffeehaus besucht hatte und während dieser Zeit um so mehr von ihr bemerkt worden war, als er stets an dem Tische saß, den früher Herr Matthison einzunehmen pflegte. Kaum hatte die gute Frau des Arztes ihre Freundin gesehen, als sie mit ausgebreiteten Armen auf sie zustürzte.

„Laß Dich umarmen, liebe Pauline,“ rief sie mit bewegter Stimme, „o, wir haben heute so viel mit Dir vor! Dieser Herr hier –“ Und sie war offenbar im besten Zuge, das ganze Geheimniß, das ihre Seele bedrückte, in einem Athemzug preiszugeben. Aber der fremde alte Herr unterbrach sie. Er war einige Schritte vorgetreten und verneigte sich jetzt achtungsvoll vor Pauline.

„Verzeihen Sie, Madame,“ begann er „wenn ich Sie gleich in der ersten Minute mit meinem ganzen Anliegen überfalle, nachdem Sie nun doch schon diese geheimnißvolle Andeutung Ihrer Freundin gehört haben. Mit einem Wort, Madame – ich bin gekommen, um Ihre Hand zu erbitten; aber nicht für mich,“ fügte er rasch und lächelnd hinzu, als er ihre bestürzte Miene bemerkte, „sondern für meinen Sohn.“

Pauline unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Mein Herr,“ sagte sie mit erregter Stimme, indem sie sich vergeblich zu fassen versuchte, „ehe Sie weiter sprechen, ehe Sie mir den Namen desjenigen nennen, der mich mit diesem Antrage beehren will, muß ich Ihnen mittheilen, daß ich den festen Entschluß gefaßt habe, mich nie wieder zu verheirathen.“

„Trotzdem müssen Sie mir erlauben, fortzufahren,“ meinte der alte Herr lächelnd, „Es wäre denn, daß Ihr Herz nicht mehr frei ist!“

„Verzeihen Sie mir – darüber bin ich wohl niemand Rechenschaft schuldig,“ sagte Pauline sanft, aber in festem Tone.

„Kind, Kind,“ mahnte die Freundin, „wie kannst Du der Erinnerung an eine längst entschwundene Vergangenheit, wie kannst Du einer nutzlosen Träumerei zuliebe ein wirkliches Glück, Deine ganze Zukunft opfern!“

„O, ich hoffe doch, daß Sie nicht unerbittlich bleiben werden, Madame,“ fiel der Alte ein. „Oder sollten Sie wirklich auf Ihrem Nein beharren, wenn ich Ihnen meinen Namen und den meines Sohnes nenne? Ich bin der Graf von Matthison. Mein Sohn Gustav –“

Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Thür zum Nebenzimmer und der, welcher all diese Monate Paulinens ganzes Sinnen und Denken erfüllt hatte, lag zu ihren Füßen.

Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, dann aber faßte sie sich und hob den Bittenden sanft empor.

*  *  *

Anderthalb Monate nach dieser Begebenheit erreichte ein bequemer eleganter Reisewagen glücklich das schöne Schloß der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_646.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)