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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

selbst gebildet, und die Köpfe, welche Montaigne, Pascal und Montesquieu lasen und verstanden, sie hatten zugleich ihren eigenen Stil gewonnen. Lesend lernt man schreiben, und jene Frauen schrieben ausgezeichuet und unermüdlich: Briefe, Memoiren, „litterarische Porträts“ ihrer Bekannten, alles, was heute für die Geschichtschreibung zur werthvollen Quelle geworden ist.

Selbstverständlich aber bemächtigte sich sofort auch die Mode der geistigen Interessen, und man begnügte sich bald nicht mehr mit der schönen Litteratur, sondern man legte auch Beschlag auf die Wissenschaft, trotz unsern allermodernsten Studentinnen. Die Damen schwärmten für Medizin, sogar für Anatomie, und die reichen Marquisen bauten Privatlaboratorien, ja Privatsektionssäle, wo sie an wirklichen Kadavern den Bau des Innern studierten! Wir besitzen genaue Aufzeichnungen über den Tageslauf dieser vielbeschäftigten Damen. Sie gehen noch in die Messe, dann aber in die verschiedenen gelehrten Vorträge, die ihnen die ersten Professoren der Universität halten, in den Jardin des plantes, um zu sehen, wie Theriak gewonnen wird. Sie gehen zu dem Uhrmacher Furet, um eine geschnitzte Negerin zu betrachten, in deren einem Auge die Stunden, in dem andern die Minuten zu sehen sind. Sie gehen zu dem Maler Greuze, sein neuestes Werk zu bewundern; ebenso bewundern sie dann die Automaten des Abbé Mical, die vier Sätze sprechen können. Dann fahren sie zu einem Zeichner, um ihre Silhouette machen zu lassen, und nachdem sie morgens der Messe für die glückliche Auffahrt eines Luftschiffers angewohnt haben, eilen sie hinaus, um die kühnen Brüder Robert und Pilatre de Rozier noch vor dem Aufsteigen des Ballons zu umarmen. (Goncourt, „La femme au dix-huitième siècle“.)

Ein köstliches Gemälde von dieser Leichtigkeit und Oberflächlichkeit, von dieser Manie für alles Mögliche entwirft uns ein Schriftsteller jener Zeit in dem einfachen Bericht alles dessen, was er erlebt, nachdem ihn eine seiner guten Bekannten in den Wagen genommen hat, um nach dem Anatomiekurs zu fahren. Kaum haben sie einen kleinen Abstecher zur Modistin gemacht, um die dringende Frage eines neuen Hutes zu erledigen, so begegnet ihnen der Wagen des Barons, der gerade auf dem Wege ist, die neuen Experimente mit brennbarer Luft zu sehen. Die Damen sind entzückt, ihn zu begleiten, nachdem er sich verbürgt hat, daß sie durch keinen Knall erschreckt werden. Aber unterwegs sehen sie die reizendsten sprechenden Papageien und müssen einen Augenblick bei dem Verkäufer eintreten. Der Baron wird entlassen, man begegnet jedoch beim Heraustreten aus dem Lokal dem Grafen, welcher nach der Blindendruckerei fährt. „Einzig, himmlisch, köstlich!“ Man befiehlt dem Kutscher, ebenfalls hinzufahren, bis der Marquise plötzlich einfällt, daß heute der letzte Termin ist, um ein ausgestelltes Bild zu sehen. Kaum sind sie im Atelier, so erinnert sich ihre Begleiterin, daß heute im botanischen Garten die Aloë aufblühen soll, die man um alles in der Welt nicht versäumen will. Und so geht es fort, vom botanischen Garten ins Modemagazin, zum Buchhändler und Architekten, bis endlich am Ende dieser anstrengenden Tour der wiedergefundene Baron mit dem Satze schließt: „Sie wollten ja in die Anatomie, meine Damen!“

Mag die große Mehrzahl der damaligen Schönen in diesem Bilde getroffen sein, so waren andererseits genug glänzende Ausnahmen davon vorhanden, wirklich hochbedeutende Frauen, die es verstanden, geistvolle Männer um sich zu versammeln und den geselligen Umgang mit einem so hohen und eigenartigen Reiz zu umkleiden, daß er unter den Fortschrittsmitteln des Jahrhunderts den ersten Rang einnahm. Allerdings nur, bis sich aus den neuen Anschauungen und Verhältnissen wieder Männercharaktere entwickelten, die aus der thatenlosen Schönrednerei in das beginnende politische Leben, in die Bahn der Redner, Staatsmänner und Helden eintraten. Die große Revolution hatte unter vielen segensreichen Folgen auch die, das natürliche Verhältniß der Geschlechter wieder herzustellen. Aber vorbereitet wurde sie in den bureaux d’esprit, wie man die Salons um die Mitte des vorigen Jahrhunderts nannte.

Es wäre indessen ein großer Irrthum, zu glauben, daß die darin Versammelten sich vom Geiste allein genährt und die Freuden der Tafel verachtet hätten. Ganz im Gegentheil. Diese „offenen Abende“ bauten sich nicht wie unsere heutigen auf einer Tasse Thee auf, sondern auf mehr oder minder reichlichen warmen Soupers, die in manchem Hause zweimal die Woche gegeben wurden. Bei dem Minister Choiseul, wo sich die elegante Welt fünfmal wöchentlich versammelte, erschien, nachdem alle da waren, ein Viertel vor Zehn der Haushofmeister, warf einen Blick auf die Gäste und ließ dann für fünfzig, sechzig oder achtzig aufs Gerathewohl decken. Die Neigung zu solch zwangloser Geselligkeit griff rasch um sich, niemand wollte mehr seine Leute altväterisch vorher einladen, alle möglichen Variationen des „offenen Abends“ wurden erdacht. In einem der großen Häuser fanden die erstaunten Gäste den Salon zum Wirthslokal umgewandelt, hinter einem stattlichen Büffet voll Delikatessen saß die Hausfrau als Wirthin mit der weißen Musselinschürze, der Hausherr ging als Wirth ab und zu, die Dienstboten waren als Kellner verkleidet. Zahlreiche Tischchen mit Gläsern, Tassen und Zeitungen vollendeten die Täuschung, als ob man sich im Café befinde; im Hintergrund des Saales öffnete sich, nachdem die Gesellschaft eine Stunde lang gescherzt und gelacht hatte, eine kleine Bühne, auf der Pantomimen, kleine Lustspiele u. dergl. dargestellt wurden. Grund genug zu Heiterkeit und sprudelnder Laune – man begreift solchen Schilderungen gegenüber den Stoßseufzer eines alten Emigranten am Anfang unseres Jahrhunderts: „Wer nicht vor 1789 gelebt, hat gar keine Ahnung von der Süßigkeit des Daseins!“ Auf wessen Kosten die privilegierten oberen Klassen so süß ihr Dasein genossen, davon hatte freilich der Herr Marquis seinerseits keine Ahnung!

Aber nicht diese vom lärmenden Gesellschaftstreiben erfüllten Räume, deren Schilderung sich ins unendliche vermehren ließe, sind die wirklichen „Salons“ des 18. Jahrhunderts, sondern die stilleren geistig vornehmen Versammlungen im Zimmer einer jener bedeutenden Frauen, die tonangebend in ihrem Kreise standen und ihn mit der Macht eines überlegenen Geistes beherrschten.

Auch ihre Zahl ist sehr groß, doch heben sich aus der Menge einige Frauen hervor, die durch ihre berühmten Freunde ein doppeltes Interesse gewähren und uns aus deren Briefen und Memoiren als Hauptfiguren der damaligen litterarischen Kreise entgegentreten.

Da ist zunächst Madame be Tencin, der älteren Generation angehörend, eine Zeit- und Gesinnungsgenossin des Regenten Philipp von Orleans und in ihrer Jugend tief verwickelt in Hofintriguen der bedenklichsten und ruchlosesten Art. Als aber in Versailles die Marquise von Pompadour Alleinherrscherin geworden war, da zog sich Madame de Tencin nach Paris zurück und eröffnete dort einen der ersten Salons, aus dem der Spieltisch verbannt war und wo eine Gesellschaft von gelehrten und künstlerischen Größen sich zusammenfand, die hier zum ersten Male galten, was sie innerlich waren, ohne Rücksicht auf den Rock, den sie trugen, Frau von Tencin heuchelte keine der weiblichen und edeln Eigenschaften, die ihr fehlten, allein sie bildete und erzog die Männer um sich her, sie wies ihnen die Möglichkeiten des Erfolgs mit einer unfehlbaren Sicherheit, die ihrem scharfen Geist und der Beobachtung eines erfahrungsreichen Lebens entsprang. Sie ist keine wohlthuende Figur, diese Frau, welche keine Zuneigung des Herzens, sondern nur Taxation des Geistes kannte und eines Tages, auf ihre Brust deutend, sagte: „Hier schlägt nur ein zweites Gehirn!“ Aber sie steht ebenbürtig unter ihren berühmten Gästen, und Leute wie Montesquieu, Fontenelle, Helvetius und andere sahen über die schweren Flecken ihrer Vergangenheit hinweg in Bewunderung eines Geistes, den auch Goethe nachmals hochschätzte.

Frau von Tencin hatte in ihrer Jugend verschiedene Liebesverhältnisse geknüpft und gelöst, die denselben entsprossenen Kinder überließ sie einfach ihrem Schicksal. Eines derselben war der berühmte d’Alembert, der den Geist seiner Mutter hatte, aber zugleich ein wärmeres Herz und ihr niemals verzieh, was sie an seiner Jugend gesündigt hatte. Als er sich durch das Elend emporgerungen und einen Namen erworben hatte, da wollte sie sich ihm nähern, er jedoch stieß sie verachtungsvoll zurück und hielt zeitlebens als seine Mutter die gute Glasersfrau in Ehren, welche ihn einstmals von der Kirchentreppe aufgehoben und als ihren Sohn erzogen hatte. Es wird nicht berichtet, daß Frau von Tencin hierüber besonderen Kummer empfunden habe.

Sie starb 1749, und als ihr in den letzten Zeiten die dicke gutmüthige ebenfalls sehr gescheidte Madame Geoffrin einen Besuch machte, sagte sie zu ihrer Umgebung: „Aha, die kommt, um zu sehen, was sie von meinem Inventar brauchen kann.“ Und in der That ging dann dieses Inventar von Poeten und Gelehrten ziemlich vollständig in den Besitz der „Mama Geoffrin“ über,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 639. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_639.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2022)