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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

zu sagen. Zunächst empfand er es mit Unbehagen, daß er nicht mehr so ruhig unb stetig bei seiner Arbeit sitzen konnte wie sonst. Es war doch keine Arbeit, die eine blühende Phantasie, einen schwungpollen Stil erforderte – sie verlangte nur Sammlung. Aber diese eben hatte er nicht. Das unbedeutendste äußere Ereigniß vermochte ihn jetzt abzulenken, ihn, von dem seine Wirthin sonst behauptete, es könnte im Hause brennen, ohne daß er sich von seinem Schreibtisch rühren würde. Wenn es an der Hausglocke läutete, fuhr rr auf und lauschte hinaus, ob jemand käme, ob er einen Brief, eine Botschaft erhalten würde, und er zürnte der Störung schon im voraus, um, wenn es keine war, sich selbst zu zürnen, daß er sich hatte stören lassen. Kam Militärmusik durch seine Straße, so stand er auf und sah zum Fenster hinaus, um festzustellen, welches Regiment es sei, das da vorbeiziehe, und setzte er sich wieder zum Studium hin, so war der Faden abgerissen unb ließ sich entweder schwer oder gar nicht wiederfinden. Kurz, der Professor kam aus dem Verwundern und Kopfschütteln über sich selbst nicht mehr heraus. Er hatte sich bei seinen Arbeiten selbst das Gesetz aufgegeben, bis zu dem und dem Punkt müsse er kommen; war das geschehen, dann konnte die Reise nach Litauen, zunächst nach Königsberg, angetreten werden. Es war förmlich, als hätte er sich selbst diese Reise zur Belohnung ausgesetzt: wenn Du hübsch fleißig arbeitest und das und das zur Zeit fertig hast, dann darfst Du nach Königsberg! Wenn Gregory daran dachte, dann mußte er über sich selber lachen. Ein paarmal hatte er sich auch schon gefragt, ob er am Ende verliebt sei, aber dieser Gedanke war ihm so thöricht, so unglaublich erschienen, daß er ihn nicht weiter verfolgt hatte. Freilich war eigentlich kein Grund vorhanden, warum eine solche Thatsache so unglaublich sein sollte, aber der Professor hatte es sich einmal in den Kopf gesetzt, er müsse eine komische Figur spielen, wenn er, in seinen reifen Jahren, sich jetzt noch verliebe . . . und eine komische Figur wollte er nicht spielen, um keinen Preis. Zudem konnte er sich in die Rolle eines verheiratheten Mannes und Hausvaters, wie zum Beispiel sein Freund Gustav Claassen einer war, gar nicht hineindenken. Gustav, ja, bei dem war’s etwas anderes, der hatte sich in jungen Jahren leidenschaftlich verliebt und dann frischweg geheirathet, sobald die Verhältnisse es irgend zuließen. Er, Gregory, war auch in jungen Jahren recht verliebt gewesen und hätte gern geheirathet, aber das Mädchen zog einen anderen Bewerber vor – Paul hatte so lange gezögert, sich offen um sie zu bemühen und trug in seiner zurückhaltenden Weise sein Gefühl so wenig zur Schau, daß das Mädchen sich kurz entschlossen und den anderen genommen hatte. Damals war ihm das sehr nahe gegangen und seine Reisen und Studien waren ihm ungemein gelegen gekommen, um neben allem Dienst der Wissenschaft die Kunst des Vergessens zu üben. Verbittert war er nicht, er hatte auch keinen Haß auf das weibliche Geschlecht geworfen und aus diesem einen Fall kein vernichtendes Urtheil über die Frauen im allgemeinen gewonnen, aber er kam sich ungelenk vor im Verkehr mit jungen Damen, er verstand es nicht, über ein Nichts sich zu unterhalten, Komplimente zu sagen und die Wahrheit zu umgehen – Dinge, die von galanten Herren im gesellschaftlichen Leben sehr oft verlangt werden. Daher zog er sich mehr und mehr zurück, hielt sich überhaupt für vorherbestimmt zum ewigen Junggesellen und Familienonkel. „Ich habe den richtigen Anschluß verpaßt,“ sagte er sich zuweilen, nicht ohne Bedauern.

Daß ihm Annaliese von Guttenberg ausnehmend gefiel, daraus machte er sich kein Hehl. „Ich wäre ja ein hoffnungsloser Narr, wenn mir dies liebreizende Geschöpf Gottes nicht in die Augen stechen würde!“ philosophierte er für sich. „Und sie sticht nicht bloß in die Augen, sie hat auch Geist und Anmuth, sie ist entschieden eine Individualität! Glücklich der Lieutenant, der sie ’mal bekommt! Steinhausen wird’s nicht sein – nun, so ist’s eben ein anderer! Nach meinen Begriffen ist sie aber fürs Militär viel zu eigenartig, zu selbständig, mit einem Wort: zu schade. Aber meine Begriffe haben dabei nichts mitzureden.“ –

Und nun endlich war es Mitte Januar, und nun endlich war die Arbeit auf dem Punkt, auf dem sie sein sollte – Mühe genug hatte es gekostet – und nun endlich konnte der Professor sich „belohnen“ und nach Ostpreußen dampfen, ein Vergnügen, um das ihn gewist wenige beneidet hätten.

Zuvor aber galt es noch, der Tante Excellenz den schuldigen Abschiedsbesuch zu machen, und der liebenswürdige Neffe rüstete sich nicht ungern dazu – hoffentlich würde die alte Dame ihm mancherlei erzählen können, was für ihn nicht ohne Interesse war!

Er fand die Generalin sehr behaglich mit ihrer Kousine, dem Frei- und Stiftsfräulein Kunigunde von Wettersbach. Die beiden Damen saßen tagaus tagein bei wohlthätigen Wollstrickereien, Bézique-Partieen und den schönsten Erinnerungen an eine gemeinsam verlebte Vergangenheit – außerdem prangte das übliche Kartenkränzchen im schönsten Flor, die „Adjutanten“ flogen ein und aus und meldeten sich zum Rapport der Tagesneuigkeiten, die alten und jungen Damen machten der „lieben theueren Excellenz“ um die Wette den Hof, kurz, die Generalin war in zufriedenster Stimmung und schien die Enkelin nicht im geringsten zu vermissen.

Ein paar Offiziere verabschiedeten sich gerade, als Gregory kam, und als sie fort waren, blieb er mit den beiden Damen allein.

„Es ist mir ganz lieb, Paul, daß ich Dich noch ohne Zeugen spreche,“ begann die alte Dame sodann. „Ich hoffe nämlich, Du wirst mir, wenn Du nach Königsberg gehst, brieflich Bericht über Annaliese abstatten.“

„Ich, Tante? Bericht? Thut denn das die junge Dame nicht selbst?“

Die Generalin schüttelte den Kopf. „Sie thut es, aber sie thut es nicht in einer Art, die mir genügt. Sie bewegt sich in allgemeinen Redensarten; das, was mir am Herzen liegt, berührt sie gar nicht.“

„Was liegt Ihnen am Herzen, Tante?“

„Mein Gott, die Rolle, die sie dort spielt, die Offiziersfamilien, mit denen sie verkehrt – sie hat Briefe von hiesigen höheren Militärs an dortige höhere Militärs mitbekommen! Von dem Eindruck, den ihre Malereien dort machen, möchte ich auch etwas wissen – sie besitzt ja ein großartiges Talent, wie ihre Lehrer mich versicherten. Ueber das alles huscht sie so hinweg, spricht von Schlittschuhlaufen, von Kindern – als ob es auf solche Dinge ankäme! – von der Weihnachtsfeier – Gott, mir scheint das alles so kleinbürgerlich, so beschränkt! Mir sind schon Zweifel aufgestiegen, ob ich recht that, das Kind überhaupt nach diesem Königsberg zu schicken. Da Du Dich aber für die Familie dieses Herrn – wie heißt er gleich? – Claassen, ach ja! – verbürgtest –“

„In jeder Hinsicht, Tante!“

„Nun siehst Du – in jeder Hinsicht! Also daher ließ ich es zu und weil es mir auch sonst rathsam schien, die Kleine eine Zeitlang von hier zu entfernen. Uebrigens, Paul, was hat denn damals Deine Unterredung mit Annaliese über Steinhausen zu Tage gefördert? Wahrscheinlich nichts, denn wäre es etwas gewesen, dann hätte ich es doch erfahren müssen.“

Der Professor räusperte sich. „Mir schien die junge Dame fest entschlossen, den Lieutenant von Steinhausen nicht zu heirathen.“

„Aber warum in aller Welt? Warum?“

Gregory zuckte rathlos die Achseln.

„Siehst Du, Kunigunde! Glaub’ mir, sie weiß es selbst nicht – es sind Launen! Und solchen Nichtigkeiten soll ein Mensch wie Steinhausen, soll mein langgehegter Lieblingsplan zum Opfer fallen? Es ist ein zu albernes Kind! Auch diese Briefe jetzt von dorther! Wäre es nicht unerhört, ich müßte denken, sie flunkert mir etwas vor!“

„Beste Tante!“

„Theure Klementine!“

Beide Zuhörer protestierten lebhaft.

„Ich sage nicht: sie thut es, ich sage: es will mir so scheinen! Jedenfalls, Paul, beauftrage ich Dich, sie zu überwachen, sie zu beobachten – mit wem sie Umgang hat, wie sie sich benimmt, ob sie Beifall in den Offiziersfamilien findet, an die sie empfohlen ist –“

„Verehrte Tante – dieser Auftrag – ich fürchte, ich bin so gar nicht die geeignete Persönlichkeit dafür – ich halte mich auch nur vorübergehend in Königsberg auf –“

Die Generalin setzte ihr imposantestes Excellenz-Gesicht auf.

„Paul, ich gestehe, ich muß mich über Dich wundern! Wenn ich, die Tante, Dich, den Neffen – wenn ich, die alte Frau, Dich, den jungen Mann, um etwas ersuche ...“

„Aber selbstverständlich, beste Tante! Ich meinte ja nur, ob meine Persönlichkeit – und meine Zeit –“

„So muß,“ fuhr die Rednerin unbeirrt und strafend fort,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_630.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2022)