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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

einen unüberwindlichen Abscheu gegen den Plan des alten Mannes; denn obgleich sie sich alle Mühe gab, den Vorschlag ohne Vorurtheil zu betrachten, so empörten sich doch ihre Grundsätze, ihr Schicklichkeitsgefühl gegen den Gedanken, ein Gegenstand der Ausstellung zu werden, gleichsam eine Lockung, ein Aushängeschild. Sich in einem Büffett den Huldigungen aller rücksichtslosen Kaffeehausbesucher auszusetzen, ihre Witzeleien anzuhören, sich sogar zwingen zu müssen, deren Wohlwollen zu gewinnen, erschien ihr als eine tiefe Erniedrigung. Sie sollte sich putzen für dieses Gewerbe, lächeln wie eine Schauspielerin und sich vielleicht den Blicken von Leuten darbieten, welche sie früher in ganz anderer Stellung gekannt hatten ... nein, nie, niemals! Lieber sterben! Aber ihr Knabe, ihr Adrian, der keine andere Stütze hatte als sie! Ihr Kind, das Noth und Elend zu erwarten hatte, das ins Leben hinausgestoßen werden sollte, verlassen, schutzlos, ohne Erziehung! Was galt gegen solch’ heilige Pflichten die Welt mit ihren nichtigen Vorurtheilen! Würde sie in ihrer erzwungenen Stellung sich weniger zu achten haben vor ihrem eigenen Gewissen? Wenn sie zögerte, war das nicht ein unverzeihliches Unrecht gegen ihr Kind, eine Feigheit gegenüber der nichtigen Meinung der Menge? Nein, sie wollte sich dessen nicht schuldig machen, sie wollte alles unternehmen für ihren Sohn, alles dulden und wenn ihr der Muth sank, dann wollte sie sich in den Armen ihres Knaben neue Kraft, neue Entschlossenheit holen!

Während sie sich solchen Gedanken hingab, solche Kämpfe durchkämpfte, kam Doktor Destrée und war ganz überrascht über die Veränderung in ihrem Zustande. Sie erzählte ihm alles: ihre Noth, das Anerbieten des alten Herrn und ihren Entschluß, trotz ihres innerlichen Widerstrebens dasselbe anzunehmen.

Der Arzt gab ihr recht und ermuthigte sie noch. „Glauben Sie mir, Madame, jeder, der Sie kennt, wird Ihrem Vorsatz beistimmen,“ sagte er wohlwollend, „und man wird es gewiß in keiner Weise an Achtung und Verehrung für Sie fehlen lassen. Aber vor allen Dingen kommen Sie jetzt auf einige Zeit in unser bescheidnes Landhaus zu meiner Frau – sie wird sich freuen, die Bekanntschaft einer so liebenswürdigen Dame zu machen. Und den Kleinen nehmen wir auch mit – die frische Luft wird Ihnen beiden gut thun. Geben Sie mir Ihre Hand darauf – wir können die Uebersiedlung gleich auf der Stelle wagen! Machen Sie rasch Toilette, ich will unterdesen zu Herrn Mussault hinabgehen und ihm melden, daß Sie sein Anerbieten annehmen und in vierzehn Tagen Ihre Stelle antreten werden. Dann hole ich den Kleinen aus seiner Schule. Mein Wagen steht unten und wird uns rasch vor die Stadt bringen.“


4. Der Thron.

Wenn die Krankheit die Seele zu etwas Körperlichem herabdrückt, so vergeistigt dafür die Erholung von der Krankheit gleichsam den Leib. Und man fühlt sich so glücklich in seiner Wiedergeburt, will das Leben so recht benutzen – etwas von der geheimnißvollen Freude des Himmels, dessen Schwelle man schon betreten hatte, ist in uns zurückgeblieben. Alles wird zur Freude, alles verursacht uns einen Genuß. Der blaue Himmel mit seinen weißen Wölkchen, das Vogelgezwitscher, die balsamische Luft, die unscheinbarste Blume – alles! Man hat seine Schmerzen vergessen, man erinnert sich an nichts und formt keine Pläne mehr: die Vergangenheit und die Zukunft haben für den Augenblick keine Bedeutung mehr; nur das eine große beglückende Gefühl erfüllt uns: ich lebe! ich bin!

Pauline, die sich so lange in eisernen Fesseln gefühlt hatte, die jetzt nach dem langen Gebanntsein in die dumpfe Krankenstube mit wohligem Vergessen den hellen Glanz ihres ländlichen Aufenthalts genoß, die der Gesundheit, ihrem Kinde wiedergegeben war, konnte nichts thun, als den gütigen Freunden um sie herum wortlos die Hand drücken. Sie hatte in der Gattin des Doktors, die von ihrem Mann die ganze Geschichte ihres Gastes erfahren hatte und daher doppelte Zuneigung zu der Verlassenen fühlte, eine schlichte herzliche Person gefunden und schloß sich schwesterlich an sie an. Unter diesen Umständen that der Landaufenthalt bei Pauline wahre Wunder. Schon nach wenigen Tagen begann ihre Schönheit wieder im alten Zauber zu erstrahlen. Die Blässe und die Durchsichtigkeit ihrer Züge verschwanden, die Rosen ihrer Wangen erblühten, die Augen leuchteten, das alte reizvolle Lächeln umspielte ihre Lippen.

O die glückliche Zeit und die glücklichen Tage! Diese Spaziergänge in der Morgenfrische, zur Seite die neugewonnene Freundin und den jauchzenden Jungen, der nach Faltern haschte, Blumen sammelte oder nach schillernden Eidechsen jagte! O selige Zeit, wo ein Frauenherz Mutter, nur Mutter sein darf!

Aber wie rasch diese vierzehn Tage verflogen! Vierzehn Tage ohne einen einzigen trüben Gedanken, ohne ein Zurückwandern in die Schmerzen der Vergangenheit, vierzehn Tage des Vergessens, des Glücks, wo die Natur selbst sich gütig und absichtlich in ihr schönstes Gewand zu hüllen schien.

Als Pauline am letzten Tage ihres Aufenthalts mit Frau Destrée und dem Kleinen von einem Spaziergang zurückkam, fand sie zwei Näherinnen aus dem größten Könfektionsgeschäfte von Paris auf sich warten. Sie brachten einen Brief von Herrn Mussault; derselbe lautet:

 „Madame!
Ich sende Ihnen hier einige Toiletten, von denen mein Sohn wünscht, daß Sie dieselben anprobieren möchten, damit die Näherinnen bis morgen, den 15. Juli (wo Sie Ihre Stelle anzutreten versprachen, alles fertig stellen können.
Mit besonderer Verehrung 
      Ihr Mussault.“  

Dieser Brief machte mit einem Schlag dem seligen Vergessen, das die junge Witwe umfangen hatte, ein Ende. Die Zukunft mit allen ihren herben Forderungen that sich düster vor ihr auf. „Kommen Sie!“ sagte sie leise zu den beiden Mädchen.

Sie ging mit ihnen in ihr Zimmer. Dort öffneten die Näherinnen die Schachteln, die sie mitgebracht hatten und die sechs vollständige Gewänder aus den theuersten und hellsten Stoffen enthielten.

„Das muß ein Irrthum sein,“ sagte Frau van Eyckens athemlos. „Ich befinde mich nicht in der Lage, solch überreiche Toiletten anschaffen zu können, die zudem mit ihrem Ausschnitt an Arm und Schulter nur für Bälle oder für große Gesellschaft passen. Auch trage ich Trauer um meinen Gatten, die ich vor einem Jahre nicht ablegen kann.“

Die beiden Modistinnen schauten einander überrascht, achselzuckend an. Die eine derselben beeilte sich mit einem schlechtverhehlten Lächeln zu sagen: „O, Madame können die Trauer außerhalb des Geschäftes nach Belieben tragen; aber am Büffett kann Herr Mussault doch keine Dame im Hauskleid und vollends gar in Trauer brauchen!“

„Das würde auch von dem Sessel, in dem Sie sitzen werden, schön abstechen!“ warf die andere dazwischen.

„Was für ein Sessel ist denn das?“ fragte Pauline bestürzt. „Der Thronsessel Napoleons, den Herr Mussault soeben um einen enormen Preis erstanden hat.“ – Man befand sich damals in der Periode nach den hundert Tagen, und der Riese Europas war abgethan für immer.

Pauline erbleichte und konnte sich kaum fassen. Das also war das Schicksal, das ihr bevorstand! Sie sollte wirklich als Schaustück prangen, der niedrigen gemeinen Schaulust der Menge dienen wie irgend eine andere Rarität auch! Sie brach in Thränen aus.

Da kam Frau Destrée mit dem Kleinen herbei; der Knabe eilte bestürzt auf seine Mutter zu und umfing sie unter den zärtlichsten Worten. Es war merkwürdig, welche Wirkung sein Erscheinen auf die junge Frau ausübte. Sie richtete sich entschlossen auf, trocknete ihre Thränen und dankte ihrer Freundin für den Dienst, den sie ihr eben geleistet, mit einem ausdrucksvollen Blicke. Mit einer Art ruhiger Verzweiflung, mit anscheinender Gleichgültigkeit ließ sie sich nun die übersandten Toiletten anprobieren und zurechtstecken, und als die Modistinnen sich entfernen wollten, ließ sie Herrn Mussault sagen, daß sie am nächsten Tag zu seiner Verfügung stehe.

Am folgenden Morgen wollte die mitleidige gutherzige Gattin des Doktors ihren Gast nach Paris zurückbegleiten. Pauline aber lehnte ihr Anerbieten dankbar und tapfer ab, indem sie meinte: „Das wäre nur ein doppeltes Scheiden – von diesem herrlichen Ort, der mich so froh gesehen hat, und dann noch von Ihnen. Nein, nein, ich will mit einem Mal mein ganzes Glück hier zurücklassen.“ Und als sie, neben dem Doktor und Adrian im Wagen sitzend, die letzten Grüße erwidert hatte, die ihr vom Gartenthor des Landhauses her zugewinkt wurden, ergriff sie die Händchen des Knaben, und sie krampfhaft festhaltend, lehnte sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_622.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2022)