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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

korrigiere, den diplomatischen Brief an die merkwürdige Großmutter verfassen. Hoffentlich hat Paul mir die Adresse – ja, hier steht sie, und hier haben wir auch noch eine Nachschrift: ‚Vielleicht freut es Dich und Deine Frau ein wenig, wenn ich Euch bald nach Neujahr meinen Besuch ankündige – ich muß wieder nach Litauen, und daß ich damit einen längeren Aufenthalt in Königsberg verbinde, versteht sich wohl von selbst. Vale‘ – und so weiter! Dieser Duckmäuser! Das schreibt er so ganz beiläufig zuletzt! Muß wieder nach Litauen! Sieh’ mal! Ob wir uns freuen! Was meinst Du, Melly? So viel gute Bekannte und angenehme Kollegen ich auch habe, mein Freund ist doch bloß immer dieser gewesen!“

„Ach, Gustav, ich bin so froh, daß Gregory kommt – und auch über die neue Pensionärin, obgleich man da nie wissen kann, was man übernimmt! Wenn ich an Eleonore von Schmieden denke –“

„Na, solch ein Grasaff’ wie die wird unser neuer Stern am Himmel der Kunst doch nicht sein!“

„Schreibt Paul denn gar nichts über ihr Aussehen, ihr Wesen? Er kennt sie ja, da müßte er es doch thun!“

„Er müßte es, aber er thut es nicht. Der ganze Brief ist fürchterlich einsilbig gehalten, nur über die verrückte Großmutter verbreitet er sich des näheren, die legt er uns warm ans Herz! ‚Was die junge Dame betrifft, so werdet Ihr ja selbst sehen und urtheilen,‘ sagt er hier. Ja, so klug wären wir am Ende auch! Nun bitt’ ich mir aber ein freundlich lachendes Gesicht aus und einen Kuß für meine guten Nachrichten. So, das lob’ ich mir! Ob es bald ein Mittagessen giebt? Ich hab’ mich schon heiser geredet –“

In diesem Augenblick erhob sich ein Gepolter hinter der Thür, die drei Heinzelmännchen stürmten herein und riefen im Chor: „Angerichtet! Angerichtet! Die Suppe steht auf dem Tisch!“

„Zu den Waffen!“ kommandierte der Hausherr. Damit griff er seine Grete vom Boden auf und setzte sie auf seine Schulter, bot seiner kleinen Frau ritterlich den Arm und überschaute mit einem leuchtenden Blick seine Truppen.


6.

In B. war soeben die Parade beendet. Auf dem schönen weiten Leopoldplatz wogte es von Uniformen – Militär, Militär, soweit das Auge reichte! Dazu das köstlichste Wetter: ein ganz leichter Frost, ein klein wenig Schnee, der die entlaubten Bäume rings um den Platz wie mit Streuzucker überpulvert hatte, und eine freundliche Sonne, die über all die hübschen Uniformen hinweglachte, sich in den blanken Knöpfen spiegelte und die Helme wie Gold funkeln machte. Langsam wanden sich ein paar Equipagen durch die dichten Gruppen; die schönste unter ihnen gehörte ohne Zweifel der alten Excellenz Guttenberg. Schon allein ihr Kutscher war eine Sehenswürdigkeit – ein bärtiger Riese von überwältigender Würde. Er regierte die prachtvollen schweren Braunen, mit denen die alte Gnädige stets fuhr – die junge Gnädige hatte zwei schlanke feurige Rappen ohne jedes Abzeichen – mit tadelloser Geschicklichkeit, jeder Zoll ein hochherrschaftlicher Kutscher; sein vielbewunderter Patriarchenbart fiel ihm auf die halbe Brust nieder und erhöhte nur noch die Würde seines Aussehens. Martin saß mit gekreuzten Armen neben ihm auf dem Bock, auch er vom Scheitel bis zur Sohle ein vollkommenes Bedientenexemplar.

Die alte Excellenz lehnte in ihrem Zobelpelz in den Seidenkissen und erwiderte huldvoll nach rechts und nach links die vielen Grüße, die ihr zutheil wurden. Neben ihr, sehr reizend, eine duftige lange Boa von weißen Straußenfedern um den Hals, ein Mützchen von dunkelrothem Sammet keck auf dem Kopf, saß Annaliese und spähte ungeduldig vorwärts, ob denn gar keine Aussicht sei, einmal aus diesem Dickicht von Offizieren herauszukommen. Vergebens! Wohin sie sah, flogen weißbehandschuhte Hände an den Helmrand, grüßten respektvolle und erfreute Augen, die Säbel und Sporen vollführten das ihr so wohlbekannte Geklirr, und jeden Augenblick mußte sie erwarten, daß der Wagen stillhielt und ihre Großmutter irgend einen ihrer „Adjutanten“ ausführlich begrüßte.

Diese „Paradefahrten“ waren ihr früher so hübsch erschienen, hatten ihr Vergnügen gemacht – was hatte ihr nicht Vergnügen gemacht vor drei, vier Monaten? – jetzt verursachten sie ihr nur Pein, und während sie den Freundinnen zunickte, die gleich ihr in ihren Wagen saßen oder zu Fuß vorbeipromenierten, um sich die Osffiziere anzusehen und von ihnen angesehen zu werden, hatte sie nur den einen Wunsch: „Wär’ ich erst wieder zu Haus! Wer weiß, wen man noch trifft und sprechen muß!“

Da richtig! Die Großmama gab das Zeichen zum Halten und winkte freundlich einen schönen lichtblonden Offizier zu sich heran. Annaliese zuckte zusammen. „Warum läßt Du halten, Großmama?“

„Warum soll ich nicht halten lassen? Dort ist ja Steinhausen, ich will ihn doch begrüßen!“ Ganz harmlos sagte das die alte Excellenz. Sie hatte das Zusammenzucken der Enkelin recht gut bemerkt und hielt es für ein günstiges Zeichen. Sie muß sich doch etwas aus ihm machen, für nichts und wieder nichts zuckt man nicht so, dachte sie. Inzwischen war Steinhausen herangekommen; Annaliese grüßte kurz und drehte den Kopf nach der anderen Seite – erschien ihr denn kein Retter?

Gott sei gedankt – da kam es durch die bunten durcheinanderwimmelnden Uniformen daher, schlicht und schwarz, keinen strahlenden Helm auf dem Kopf, sondern nur einen dunkeln breitgerandeten Filzhut, keinen Schleppsäbel unter den Arm hinausgezogen, sondern einen dickleibigen Folianten – es war sonderbar, daß das für Annaliese von Guttenberg, die Soldatentochter, ein so erfreulicher Anblick war! Mit Auge und Hand winkte sie ihn, der sich mit einem höflichen Gruß begnügen und weitergehen wollte, näher heran, und als er es nur zögernd that, setzte sich ein ungeduldiges Fältchen zwischen ihren geraden Brauen fest und ihr funkelnder Blick schien dem Unschlüssigen zuzurufen: „Schneller, schneller – merkst Du denn nicht, daß ich Hilfe brauche?“

Der Professor sah jetzt den blonden Offizier, und nun beschleunigte er seinen Schritt bedeutend; es war ja eine peinliche Lage für das Mädchen, ewig in Erwartung eines Heirathsantrages dazusitzen, den es doch ablehnen mußte!

„Mein lieber Steinhausen, ich muß Sie schelten!“ rief die alte Excellenz mit ihrem liebenswürdigsten Ton. „Warum in aller Welt kommen Sie denn nie mehr zu meinem Montagabend? Ich empfange noch immer am Montag, müssen Sie wissen. Annaliese – – ah so, Du bist es, Paul? Guten Tag!“ Sie hatte sich ahnungslos umgewendet, um ihre Enkelin mit ins Gespräch zu ziehen, und gewahrte nun erst ihren lieben Neffen, der wie aus der Erde emporgewachsen dastand und in demselben Augenblick seine Hand auf den linken Wagenschlag legte, in dem Steinhausen die seine auf den rechten stützte. Das verbindlich lächelnde Gesicht der Generalin wurde kälter, und ihre Begrüßung des Neffen hatte nichts Erfreutes. Sie mochte Paul sonst gern, aber eben jetzt, wo sie eine geschickte militärische Rekognoscierung vornehmen wollte, kam er ihr ganz ungelegen. Daß Annaliese ihn herangewinkt hatte, war ihr zum Glück entgangen.

„Guten Tag, verehrte Tante, wie geht es Ihnen?“ Der Professor lüftete höflich den Hut und lehnte sich gemächlich an den Wagenschlag, augenscheinlich zu einer längern Unterhaltung bereit.

„Ich danke, so leidlich! Aber wir wollen aussteigen, Annaliese, und ein paar Minuten promenieren! – Die Herren kennen sich doch? Nicht? Herr Lieutenant von Steinhausen – mein Neffe, Professor Gregory. So, und nun geben Sie mir den Arm, Steinhausen, Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig!“

„Exzellenz sind zu gütig!“ Der Offizier zögerte einige Augenblicke, um zu warten, bis Annaliese und der Professor in ein Gespräch gekommen waren, was merkwürdig rasch geschah, dann ging er mit der Generalin voran. „Ich weiß ja“ – Steinhausen dämpfte vorsichtig seine Stimme – „daß Excellenz mir stets das gleiche Wohlwollen bewahrt haben, ich habe diese für mich sehr beglückende Thatsache aus verschiedenen Umständen ersehen, und Excellenz dürfen mir glauben, daß ich aufrichtig dankbar dafür bin. Allein ich erfahre von – von – anderer Seite leider so wenig Ermuthigung, daß ich es in der That nicht wagen kann –“

„Aber sagen Sie mir, seit wann ist denn das? Und woran liegt denn das? Es war doch früher anders!“

„Daß es anders gewesen ist, macht mir die Sache noch unendlich peinlicher und schmerzlicher. Hätte ich nie eine Hoffnung hegen dürfen ... aber es wollte mir doch scheinen, als ob eine Zeitlang, wenn auch nicht Erwiderung meines Gefühls, so doch ein gewisses aufkeimendes Interesse, das mich sehr beglückte ... Excellenz verzeihen, wenn ich ganz offen rede –“

„Bitte, lieber Steinhausen! Habe mir das schon lange gewünscht! Aber ich muß meine Frage wiederholen: seit wann ist das, und woran kann es liegen?“

„Ich hatte gerade gehofft, Excellenz würden mir einen

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