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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Das schöne Limonadenmädchen.

Erzählung von E. M. Vacano.[1]0 Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Die Geschichte, die ich heute erzählen will, ist keine erdachte, keine Kunstnovelle. Lieber als die Gestalten, die ganz aus der Phantasie entstanden sind, die sich bewegen und reden nach der Stimmung des Verfassers, wie der sich’s erträumt hat – schildere ich Personen, die wirklich gelebt, deren Herzen wirklich geschlagen, deren Lippen wirklich gelächelt haben. So erzähle ich denn auch dieses Geschichtlein nur nach, wie’s etwa ein alter deutscher Sänger gemacht hat, wenn er vor den Bildern in der Halle seiner Burg auf und abschritt an Wintertagen, während der „schriber“ in der tiefen Fenstermulde das Diktierte mit kunstvollen Buchstaben in das Pergament einzeichnete.

Von der Heldin dieser Erzählung las ich zum ersten Mal in dem Tagebuch, das der russische Generalstabsoffizier Moritz von Kotzebue während seiner französischen Gefangenschaft in den Jahren 1812 bis 1814 nieberschrieb. Mit bewundernden Worten schildert er da, wie er in dem „café des mille colonnes“, so genannt nach den Säulen, die sich endlos vervielfältigten in den reichen Spiegelwänden des Kaffeehauses, die schönste Frau getroffen habe, die er je in seinem Leben gesehen – das „schöne Limonadenmädchen“, von dem ganz Paris spreche, zu dem ganz Paris wallfahre. Meine Neugier war erregt. Die schönste Frau, die ein Offizier, der die ganze Welt durchwandert hatte, je gesehen! In meinem Geiste stellte sich ihr Bild mit dem berühmten Gemälde des „Chokoladenmädchens“ von Liotard zusammen und ward gleichsam eins mit demselben. Und ich gab nicht nach, bis ich die wirkliche Geschichte dieser wunderbaren Frau aus der Napoleonischen Zeit aufgestöbert hatte, die Geschichte, die ich nun erzählen will.

1. Das Rubenshaus.

Das Haus, das einst Peter Paul Rubens in Antwerpen bewohnt hat, ist heute durch eine breite Mauer in zwei Theile getheilt. Der eine davon wurde in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts von einem Banquier bewohnt, der den guten Geschmack besaß, dem Gebäude jenes Aussehen zu lassen, das es noch aus der Zeit des Königs aller vlämischen Maler sich bewahrt hatte; nur die Ateliers waren verschwunden. Der Hintergrund des Gartens aber wies noch die kleine Hütte auf, in welcher einst Helene Fourment kühlen Schatten suchte, während Rubens inmitten seiner Schüler unter freiem Himmel malte und auf seinen Gemälden mit dem Licht und dem Glanz des hellen Tages wetteiferte.

In dem Flügel des Gebäudes, in dem der Banquier wohnte, herrschte der Reichthum und jene Behaglichkeit Flanderns, die sich seit Jahrhunderten so erhalten hat, wie sie uns aus den wohlthuenden Stimmungsbildern der holländischen und vlämischen Malerschule entgegentritt. Auf den Treppen lagen weiche Teppiche, an den Thüren hingen dunkelgetönte dicke Vorhänge herab; Wärmeöffnungen strömten eine behagliche Temperatur aus. Vorzüglich aber war das Wohnzimmer der Dame des Hauses ein wahres Nest von Behaglichkeit und Glanz. Ein Künstler hatte den Marmor des Kaminmantels gemeißelt. Das Spiegelglas über demselben ließ in einen wundervollen Wintergarten blicken, dessen grüne fremdländische Blattpflanzen gar hübsch abstachen gegen den wirbelnden Schnee des Wintertages draußen. Zugleich war dieser große Raum das Kleinodienkästchen für die schönsten Kunstwerke des Hauses; unter den kostbaren Bildern berühmter Mater der Blüthezeeit sah man da auch verschiedene Familienporträts aus dem Stamme der Rubens.

Wer in bieses Zimmer trat, mußte sich wohl fragen: wie kommt der Bewohner dieser Räume zu all den Familienstücken hier? Und der Fremde, der die Fassade des Hauses in Begleitung seines Antwerpener Führers betrachtete, fragte den letzteren sicherlich: „Wie kommt es, daß man den Herrn Banquier van Eyckens in einem Hause wohnen läßt, das eigentlich ein Heiligthum der alten Künstlerstadt und in öffentlichem Besitz sein sollte?“ Und die Antwort würde gelautet haben: „Weil dieses Haus und diese Bilder ein Erbtheil der jungen schöne Gattin des reichen und stattlichen Geldfürsten sind. Denn sie hieß als Mädchen Pauline Rubens und ist eine Ur-Urenkelin des Malerfürsten.“

Madame van Eyckens war wirklich werth, ein Nachkomme des Künstlers zu sein, dessen Ideal die Schönheit und die Lebensfreude war. Wie sie jetzt am Kamin ihres winterdunklen prächtigen Zimmers stand, glich sie ganz den Heldinnen jener Bilder aus der Zeit der vlämischen Kunstblüthe. Ihr gelblichweißes Atlaskleid, die purpurrothe, mit weichem weißen Pelzwerk besetzte Jacke, der wunderbar schöne Kopf mit den sammetschwarzen sanften mandelförmigen Augen, den schöngeschwungenen Lippen, dem reichen dunkelglänzenden Haar – das alles wirkte zusammen zu der überwältigenden Schönheit dieser Erscheinung. In die knisternden Falten des Atlaskleides hatte sich ein kleiner vierjähriger Knabe geschmiegt, mit den langen Seidenlocken der deutschen Märchenprinzen. Auch der Gatte der schönen Frau, der Großhändler und Geldmann van Eyckens, war da – ein noch junger Mann, in seiner Stattlichkeit der bewunderten Gattin wohl ebenbürtig. Aber sein wohlgebildetes Antlitz war jetzt verstört und gleich dem seiner Gattin totenbleich.

„Unmöglich!“ rief Pauline van Eyckens mit zitternder Stimme. „Alles soll verloren sein? Alles? So plötzlich?“

Er rang die Hände und warf sich in die Damastkissen des Sofas, als lasse er sich in einen Abgrund fallen – so erschöpft, so außer sich, so ohne Fassung. „Plötzlich? Ach, ich hatte Dir den langsamen Weg abwärts verschwiegen , Pauline! Ich habe gekämpft und gekämpft, bis endlich das ganze unterwühlte Gebäude unseres Glanzes, unseres Reichthums und – meiner Ehre über uns zusammengebrochen ist!“

  1. Es wird unsere Leser interessieren, in dieser Erzählung eine der letzten Arbeiten des namhaften Novellisten kennenzulernen, den am 9. Juni 1892 ein früher Tod ereilte und dessen Gedächtniß erst jüngst durch die Enthüllung seines Grabdenkmals in Karlsruhe aufs neue befestigt wurde.Die Redaktion. 
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 605. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_605.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2023)