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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Abendhimmels hereinfällt. Wie er ahnte – dürstend, schmachtend nach Luft hat das unselige süße Geschöpf hierher sich mit versagender Kraft noch geschleppt; sie lehnt halb kniend halb liegend unter dem Fenster mit der Stirn an der Mauer!

Daß sie nicht tot ist, nur todmatt und betäubt, weiß er; sie muß leben; rasch tödlich ist dieser Holzqualm nicht. Aber wie furchtbar, wie versengend fällt auch auf ihn die glühende Hitze des Raumes, nur während der Sekunden, die er braucht, um die kostbare Last in die Arme zu nehmen – ach, mit welchem unennbaren Erbarmen, mit welcher Zärtlichkeit! – und sie hinaus zu tragen.

Als er draußen an der Nonne vorüberkommt, die verstört neben der Thür am Boden kauert, zuckt sein Fuß; er möchte sie zertreten wie ein Gewürm. Oder ein Griff nur und er hat sie hineingestoßen in die höllische Gluth, der Riegel fliegt hinter ihr zu und sie mag da kosten, was sie einer anderen bereitet hat! Aber der Ekel hält ihn ab, sie auch nur zu berühren. Und während er Polyxene so trägt und an sich preßt daß er den matten, ganz matten Schlag ihres Herzens an dem seinigen fühlt, hat er da Zeit, kostbare Sekunden zu vergeuden, um sie auf eine Rache zu verwenden?

Im Sprechzimmer, wohin Herr von Nievern Polyxene trug, traf er mit dem Pater Gollermann zusammen. Daß dem Nonnenhause Feuersgefahr drohte, hatte diesen hochwürdigen Herrn aufs lebhafteste berühren müssen. Er war herbeigeeilt, zugleich mit ihm durfte aber auch die Beruhigung in die geängsteten Gemüther der Schwestern wieder einziehen: der Ruß im Schornstein der Räucherkammer hatte Feuer gefangen, dieses war jedoch alsbald in sich selber wieder erstickt worden. Dergleichen konnte in jedem Hause vorkommen, immerhin aber würde sich der Schaffner zu verantworten haben, obwohl oder gerade weil der greise Mann sich in die spärlichen Haare fuhr und unter Anrufung aller Heiligen betheuerte, daß er nichts versehen habe.

Mit unbewegter Miene, die auf wenig Nachsicht und Glauben schließen ließ, hatte ihn der Pater Gollermann angehört, nachdem er die verwirrten und wortreichen Berichte der Nonnen vernommen. Da trat der Oberjägermeister ins Gemach, die noch immer leblose Gestalt des Fräuleins von Leyen in den Armen, und nun konnte der geistliche Herr eine gewisse Bestürzung nicht verbergen. Ehe diese sich aber in werkthätigen Antheil an der Wiederbelebung der Schwerbetäubten umzusetzen vermochte, hatte ihn Nievern mit einer einzigen, jedoch eigenthümlich nachdrücklichen und sprechenden Bewegung von ihr abgewehrt. „Frisches Wasser und Luft hier im Gemach!“ bedeutete er über die Achsel ein Vierteldutzend neugierig und entsetzt herandrängender Nonnen, gegen welche er ebenso mit den Armen einen gleichsam bannende Kreis beschrieb, damit sie seiner blassen Lilie nicht zu nahe kämen. Dann aber trat er dicht an den würdigen Pater heran und sagte ihm, Auge in Auge mit ihm stehend, ein paar halblaute Worte.

Da verfärbte sich des hochwürdigen Herrn Angesicht in gerechtem Zorn: er erhob seine Stimme und ließ sich zu den Nonnen, denen noch nie ein Tag einen solchen Wechsel von ungewöhnlichen und mehr oder weniger angenehm grausenden Erregungen gebracht hatte, also vernehmen: „Ehe die unterbrochene Wahl einer Aebtissin zu Ende geführt wird, ist die bisherige Subpriorin, die Schwester Veritas, in ihre Zelle einzuschließen und dort ohne jeglichen Verkehr mit den Schwestern zu halten, bis ich im Einverständniß mit der neuen Frau Aebtissin Weiteres über sie verfüge. Sie hat sich einer groben Nachlässigkeit, wenn nicht gar böswilligen Ungehorsams schuldig gemacht, daraus schweres Unheil – ich meine die Leibes- und Lebensgefahr dieses Fräuleins – und damit dem Kloster kränkender Verdacht, gerechter Vorwurf und eine währende Schädigung seines Ansehens hätte erwachsen können.“ Und wie erklärend fügte er hinzu: „Das Fräulein von Leyen hätte nach meiner Anordnung, ehe die Schwester sich zur Wahl begab, ihrer Klausur entlassen werden sollen, dann wäre sie durch den unglücklichen Zufall dieses Brandes nicht so gefährdet worden, wie wir es nun mit Kummer wahrnehmen müssen. Von dem Amte der Subpriorin ist Schwester Veritas für jetzt suspendiert.“

„Euer Kummer mäßige sich, hochwürdiger Herr; laßt mir aber durch eine der werthen Schwesterschaft zukommen, was ich brauche – eine stärkende Essenz und Wasser – und hernach würde ich einem jeden danken, wenn er fortbliebe,“ sagte der Oberjägermeister darauf. Und er hatte die geistlichen Hausgenossen zu rühmen, daß sie ihm eilig willfahrten. Er hatte Polyxene in einen Sessel gelegt, das Fensterlein daneben geöffnet und war allein mit ihr, als nun unter dem Kusse der frischen Abendluft, nach der sie, ach wie jammervoll und wie lange, vergebens geschmachtet hatte, ein leises Regen über das rührende stumme Antlitz ging. Er küßte sie nicht, jetzt nicht, er hatte keine Zeit dazu. Mit verhaltenem Athem wartete er, während er sorgsam die belebenden Mittel anwendete; mit den Lippen wenigstens küßte er sie nicht, wohl aber mit den Augen, die sogar jetzt den süßen Reiz dieses Gesichtes entzückt mittranken, sobald nur die pressende Angst um sie ihn losgelassen hatte.

Jetzt endlich, endlich zuckten die blassen Lider, und dann hatte sie die Augen geöffnet, die ruhig, ganz ruhig in den seinen hangen blieben, ohne Verwundern, aber auch ohne Erinnerung – wie im Fortgenießen eines beglückenden Traumes.

Wie lange sie so Blick in Blick und Seele in Seele tauchten, das wußten sie beide nicht. Das Leben sollte diesen beiden vereint noch manche gute Stunde bringen; eine jede aber und ihr Glück gehörten der Erde an – diese stummen Augenblicke blieben unvergleichbar mit ihnen – sie waren ein Hereinragen des Himmels in den Raum irdischer Bedürftigkeit, ohne Zusammenhang mit dem Vor- und Nachher.

Sobald jedoch Polyxene voll zur Wirklichkeit erwachte und merkte, wo sie war, erschrak sie, ja sie blickte mit Entsetzen umher. „Bin ich noch hier?“ sagte sie leise wie in tiefer Muthlosigkeit und rührender Klage. Das war genug für ihn. Ohne ein Wort hob er sie auf und trug sie aus dem Gemach, zum Thore und ins Freie hinaus. Noch war die Verwirrung im Hause so groß, daß ihn niemand seines Vorhabens wegen auch nur befragte. Und so lag das Kloster der Ursulinerinnen hinter Polyxene wie ein böser Traum, und für immer.

Draußen gewahrte der Oberjägermeister, den die Liebe nicht hinderte, sich scharf umzublicken, in geringer Entfernung im Abendnebel den wohlbekannten Umriß der Kutsche von der Herrenmühle. Da fiel es ihm aufs Herz, daß der Freudenschreck über das, was ihrer jetzt wartete, Polyxene leicht gefährlich werden könnte. Er trat vor sie hin, ihr so jenen Anblick verdeckend, nahm ihre Hände fest in die seinen und sagte: „Das Gute pflegt so wenig allein zu kommen wie das Böse. Ihr seid Euerer Heimath wiedergegeben, Süße, und mir, dem Ihr das Licht der Augen seid – was wäre nun der höchste Wunsch Eueres Herzens? Denn vielleicht –“

„Ach, daß Lutz lebte,“ unterbrach sie ihn da, „daß Lutz lebte und froh wäre wie sonst und bei uns! Ach, Lutz – Lutz –“

Sie schrie auf – sie flog von ihm fort auf den zu, der sich ihr vom Wagen her entgegenwarf, und dann mußte der Herr von Nievern zusehen – und nicht ohne eine Regung leisen Neides auf den junge Schlingel that er das – wie die beiden Verwandten einander in den Armen lagen, wie das Fräulein am Halse des Knaben schluchzte vor Lust und wie sie ihn küßte, küßte – den Teufel auch, so leer dabei zu stehen! Aber er wußte doch nun, wie zärtlich sie küssen konnte, und diese Erfahrung sollte nicht an ihm verloren sein!

Uebrigens kam der wackere Junge jetzt auf ihn zu und sagte: „Mich dünkt, ich danke Euch zuerst meine Freiheit, Herr von Nievern. Ihr waret es, der den Strieger nach mir schickte und mir die Hilfe des Herrn von Wildenfels gewann. Das vergesse ich Euch nicht, so lange ich lebe.“

Da sah Polyxene ihren Verlobten nur an, aber dieser Blick schenkte ihm erst, was dieses kindliche und zugleich stolze, dieses zärtliche und doch scheue Herz nicht so leicht wie andere zu schenken vermochte: das hingebende Vertrauen eines ganzen Lebens. – –

Am folgenden Abend schien der niedere Speisesaal in der Herrenmühle mit seinem lastenden Gebälk und den dunklen Täfelungen und Wappen nicht düster wie sonst wohl. Denn von Fünfen, die um die Tafel saßen, umstrahlte drei wenigstens der Glanz der Jugend, und ein Schimmer seligen Glückes ging von ihnen aus. Angst und Jammer, die hinter ihnen lagen, trübten wie eine ferne dahinsinkende Wolkenwand den heiteren Himmel für jetzt nicht, wenn auch die dunkle Wand noch lange mahnend an ihrem Horizonte stehen sollte.

Der Herr von Gouda, der in gemessener Weise sich ebenfalls der Feier dieses Wiedersehens und Wiederbesitzens hingab und der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 576. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_576.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2021)