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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

hat vornehmlich auf das jüngere Geschlecht einen begeisternden Einfluß geübt und so nicht wenig zum endgültigen Siege des Einheitsgedankens beigetragen. Jedenfalls war uns der eigenartige Charakterkopf des Wiesbadener Rechtsanwaltes vor allen übrigen Reichsboten anziehend und sympathisch, und seine kostbaren Schriften über die Jammerwirthschaft der Kleinstaaterei gehörten zu den gelesensten Stücken unserer sonst nicht allzu reichhaltigen Bibliothek. Das waren gesunde klare Gedanken in flotter bestrickender, oft hinreißender Form, Schilderungen von überquellender Lebenskraft, das Ganze durchfluthet vom Strom einer mannhaften furchtlosen Ueberzeugung. Braun philosophierte nicht, sondern er zeigte; die Eigenart seiner schriftstellerischen Begabung setzte das Theoretische und Allgemeine überall ins Praktische und Besondere um. Schon hieraus erklärt sich die ausgeprägte Vorliebe des Mannes für das Individuelle und Anekdotische, für jene kleinen und kleinsten Züge, deren Bedeutung dem Alltagskopfe nicht immer einleuchten will . . .

Als wir bei Bonorand vorfuhren, saß Karl Braun mit seiner Gattin und seinen Töchtern bereits unter den Lindenbäumen und schaute mit unverkennbarem Wohlgefühl dem farbig bewegten Treiben zu, das an sonnigen Nachmittagen im Frühling und Vorsommer für diesen Lieblingsort der Leipziger so bezeichnend ist. Man sah ihm an, wie gern und mit wie jugendlich frischer Theilnahme diese Augen beobachteten, wie liebevoll dies warmherzige Humoristengemüth alles umfaßte, was Mensch und menschlich war.

Corvin stellte mich vor. Wir wechselten einige Worte der Höflichkeit. Hieraus entspann sich ein etwas minder förmlich geführtes Gespräch. Alsbald hatte ich das Gefühl, als sei dieser Mann seit Jahren schon mir ein lieber vertrauter Freund gewesen. Unter zehn Fällen ist man neunmal enttäuscht, wenn man einer politischen oder litterarischen Größe, die man aus der Entfernung schätzen gelernt, nun von Antlitz zu Antlitz begegnet. Hier aber deckten sich Wirklichkeit und Phantasiebild so volldtändig, daß dieser Eindruck der ersten Stunde während des nachmaligen lebhaften Verkehrs mehrerer Jahre in keiner Weide verändert wurde.

Karl Braun besaß eben vor allem eine scharf ausgeprägte Persönlichkeit. Schon seine äußere Erscheinung hatte etwas Ueberraschenbes. Er selbst rühmte sich, der Abkomme urdeutscher Bauern zu sein. Die imponierende hohe Gestalt, der breite Kopf mit dem ungewöhnlich mächtigen Nacken und die derb frische Gesichtsfarbe erinnerten in der That an die Kernhaftigkeit des Landmanns, der in Wetter unb Wind seine Scholle baut. Die zunehmenden Jahre hatten ihm eine gewisse Fülle verliehen, die sich indeß wesentlich von dem Embonpoint aufgedunsener Rentiers unterschied. Lachend erzählte er einst, sein „Marchand-Tailleur“ habe erklärt: „Für Sie, Herr Justizrath, Röcke zu fertigen, ist ein wahrer Genuß; bei Ihnen ist alles von oben bis unten so prächtig egal.“ Das war nicht übel gesagt; die derbe „Egalheit“ erinnerte an die Stämmigkeit eines Eichbaums.

Karl Braun-Wiesbaden.
Nach einer Aufnahme von L. Haase und Komp., Hofphotographen in Berlin.

Trotz dieser Wucht der Erscheinung hatte Karl Braun etwas außerordentlich Vornehmes. Jede Bewegung verrieth den vollendeten Kavalier; die Gebärdensprache war maßvoll aber beredt und von gewinnender Eigenart. Gewinnend im höchsten Maß war überhaupt so ziemlich alles an diesem Manne: die freien ansprechenden Züge, die tieftönige volle Stimme, der Blick der feurigen Augen, das wohlwollende, liebenswürdige Lächeln. Niemals, und wenn die Geister noch so urwüchsig aufeinanber prallten, verließ ihn die maßvolle Selbstbeherrschung; er, dem alle Waffen des Witzes und der vernichtenden Satire schlagfertig zur Hand waren, hat diese Waffen – das müssen ihm seine erbittersten Gegner einräumen – niemals in unedler Weise gebraucht.

Von der Macht, die Karl Braun über die Gemüther des Volkes, insbesondere seiner rheinländischen Landsleute ausübte, kann sich nur der ein Bild machen, der ihn etwa als Sprecher auf einer Volksversammlung oder auch nur als Erzähler und Plauderer im Kreis dieser Heimathgenossen beobachtet hat. Welches Verständniß für die innersten Regungen der Menschennatur, für alles, was da ergreift und bewegt, und – für den Zauber der funkelnden Gottesgabe im Becher! Denn neben so vielen großen und kleinen Vorzügen besaß Karl Braun eine Weinzunge, die, „glänzend veranlagt unb glänzend geschult“, mit Leichtigkeit nicht nur die engere und engste Heimath des Tropfens, sondern meist auch den Jahrgang mit unfehlbarer Sicherheit augenblicklich herausschmeckte. Wie alle Weinkenner leugnete er den Vorzug des Champagners; er hat über dies Thema sogar eine geharnischte Schrift veröffentlicht, die ihm den Zorn der Witwe Cliquot und ihrer Berufsgenossen für ewige Zeit auf den Hals lud. Bezeichnend für seine Freude am Rebensaft waren die Worte, die er an seinem sechzigsten Geburtstage sprach: „Die besten Trunke sind nun gethan!“ In den Augen des Biographen wird diese „Feuchtfröhlichkeit“ nicht eben schwer wiegen, aber das Volk liebt solches Zechverständniß; dem ewig nüchternen Wassertrinker bringt es kein rechtes Vertrauen entgegen . . . Und nun vollends der Anwohner jener gesegneten Gaue, wo der Rüdesheimer im Gold der Sonne reift und der Johannisberger!

Brann verstand seine Heimathgenossen! Jedes Wort, das er zu ihnen sprach, hatte gleichsam den Erdgeruch der nassauisch-preußischen Rebengelände. Mit Recht bezeichnete ihn ein großes politisches Blatt als das vollendete Urbild einer echten vollsaftigen Rheinländernatur, eines westdeutschen Volkstribunen. Wie er aber auch ohne die Hilfsmittel rednerischer Kunst und humorsprühender Agitation wirkte, dafür möchte ich hier einen bezeichnenden Zug beibringen. Ich entsinne mich, daß eine Dame, die eine Reihe schwerer Schicksalsschläge erfahren hatte, nach einer kurzen Begegnung mit Karl Braun plötzlich in Thränen ausbrach und mit bewegter Stimme ausrief:

„Wie geborgen muß die Familie sich fühlen, die einen solchen Vater besitzt!“

Die Familie hat diesen Vater nunmehr verloren. Am 14. Juli ist Karl Braun – schon seit Jahren von schwerer Krankheit heimgesucht, von seiner treuen Gefährtin bis zuletzt mit aufopfernder Hingebung gepflegt – zu Freiburg im Breisgau gestorben. Ein Herzschlag hat diesem reichgesegneten Dasein plötzlich ein Ende gemacht.

Wenn man die Männer nennt, die an der Wiege der deutschen Einheit gestanden, die mitgearbeitet haben an dem gewaltigen Werke des Fürsten Bismarck und des glorreichen ersten Kaisers, so wird man auch Karl Brauns – und nicht unter den Letzten – gedenken müssen. In wehmuthsvoller Ergriffenheit legen wir dieses bescheidene Blatt auf die Schlummerstätte des Heimgegangenen. Er ruhe in Frieden! Ernst Eckstein.     

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Wir freuen uns, unseren Lesern, von denen sich vor allem die älteren des Verstorbenen treuer Mitarbeiterschaft an der „Gartenlaube“ dankbar mit uns erinnern werden, diesen herzlichen Nachruf aus Freundesmund bringen zu können. Es ist wohl kaum nöthig, dem lebendigen Bilde Karl Brauns, das hier gezeichnet ist, den äußeren Rahmen hinzuzulegen: wie der sechsundzwanzigjährige Anwalt als Mitglied der nassauischen Kammer im stürmischen Jahre 1848 seine politische Thätigkeit begann, wie er dort bis zur Einverleibung seines engeren Vaterlandes in Preußen die Sache der Freiheit und deutschen Einheit gegen die Engherzigkeit und den Sondergeist der Kleinstaaterei glänzend verfocht, wie er dann von 1867 an erst im Norddeutschen und nachher im Deutschen Reichstag das große Feld für seine hervorragende Thätigkeit, zugleich in Berlin eine neue Heimath fand – das alles ist noch unvergessen. So schließen denn auch wir mit dem Wunsche, den das Gedenkblatt des Freundes dem wackeren Manne als den letzten gewidmet hat: Er ruhe in Frieden! Die Redaktion. 


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_555.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2022)