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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Wollte man dem tonangebenden Zeitgeschmack huldigen, so konnte man sich zu der Enkelin begeben, die drei Zimmer besaß, die sie nach ihrem Sinn ausgestattet hatte. Hierin ließ ihr die Großmutter ganz freie Hand. Die beiden Damen bewohnten das große, etwas nüchtern und alltäglich aussehende Haus, an das sich ein hübscher alter Garten anschloß, ganz allein – wozu sich mit Miethern herumplagen, wenn man es nicht nöthig hat! Es war sehr still da draußen. In die vornehme Villenstraße verirrte sich nur selten ein Miethwagen, und die Pferdebahn führte gar nicht hindurch; höchstens rollte rasch und leicht einmal eine Equipage vorüber.

Ein unfreundlicher Novemberabend, der nassen Nebel und schauernde Kälte mit sich brachte, senkte sich rasch herab. Die Exeellenz läutete zweimal mit einem altmodischen silbernen Glöckchen. Eine robuste, grauhaarige Person mit weißer Faltenschürze und einem Brusttuch von schneeigem Batist trat ins Zimmer – sie war vor langen Jahren bei der jungen Frau Major als Jungfer gewesen, hatte dann einen Kunstschlosser geheirathet und war nach beiderseits erfolgter Verwitwung als Haushälterin zu ihrer einstigen Herrin zurückgekehrt.

„Exeellenz befehlen?“

„Eigentlich gar nichts, Kanapé“ – diesen merkwürdigen Namen hatte der verblichene Kunstschlosser geführt. „Ich wundere mich, daß heute niemand kommt. Sie können sich mit Ihrer Arbeit hierher zu mir setzen – ich langweile mich!“

„Wenn Exeellenz etwas lesen möchten –“

„Nein, will ich nicht! Diese neuen Bücher sind nichts für mich – und meine Palzow und meinen Gutzkow kann ich beinah’ auswendig! So wie die schreibt heutzutage kein Mensch mehr! Kommen Sie nur mit Ihrer Handarbeit!“

„Zu Befehl!“

Frau Kanapé machte Kehrt und kam nach einer Minute mit einer aus Streifen gehäkelten Bettdecke wieder.

„Noch immer die ewige Decke? Sie kommen immer nicht damit vom Fleck! Für unsere Armen arbeiten Sie gar nichts, Kanapé!“

„Das thun Frau Generalin ja schon! Die Decke ist für mich.“

„Christlichen Sinn haben Sie nicht für einen Pfennig!“

„Excellenz haben so sehr viel – dagegen komm’ ich doch nicht auf!“

Die alte Dame richtete sich noch gerader auf und strickte geschwind an dem Kamisol weiter. Das Wohlthätigkeitsthema war ein streitiger Punkt zwischen ihr und der braven Haushälterin.

Längeres Schweigen. Im Zimmer nebenan verkündete eine Kuckucksuhr die sechste Stunde.

„Wundern Sie sich denn nicht, Kanapé, daß heute kein Mensch kommt?“

„Gar nicht, Exeellenz. Unsere jungen Herren und Damen, die sind heute alle auf der Polterabendprobe, wo auch unser gnädiges Fräulein ist, und die alten Herrschaften – ja, denen ist das Wetter zu schlecht. Draußen hängt alles dick voll Nebel, und naß fällt es – und windig ist es auch – und schmutzig ist es auch!“

„Pfui, das ist ja eine widerliche Schilderung! Aber um halb acht soll mein lieber Divisionsprediger zu mir kommen, und der hält Wort, da sei das Wetter so schlecht, wie es wolle. Sagten Sie etwas, Kanapé?“

Die Hanshälterin hatte etwas von „Geldholen“ gemurmelt, verneinte aber die Frage entschieden.

„Schlag sieben muß Martin mit dem Kutscher hinfahren, um das gnädige Fräulein aus der Probe abzuholen!“

„Sehr wohl Excellenz! Martin weiß das schon.“

Die Generalin seufzte. Die Unterhaltung mit der Kanapé erwies sich wieder einmal bedenklich unfruchtbar. Manche Leute priesen ja so sehr die Stille und Einsamkeit, aber sie, die Excellenz, war eine gesellige Natur, sie konnte das Alleinsein nicht vertragen. Doch jetzt – schellte es da nicht draußen? Die alte Dame hob den Kopf und lächelte ganz hoffnungsvoll. Gottlob, da kam jemand!

Martin klopfte diskret und kam auf leisen Sohlen ins Zimmer. „Herr Professor Gregory bitten um die Ehre –“

„Sehr erfreut, lasse bitten! Kanapé, verschwinden Sie!“

Es war nun zwar niemand vom Militär in Sicht, sondern nur ein Civilist, einer von den „Geduldeten“, aber immerhin einer von denen, welche die Generalin gern sah. Sie hatte eine ihr sehr liebe Kousine besessen, die einen Oberstabsarzt geheirathet hatte und mit ihm weit wegversetzt worden war. Nach langen Jahren kam die Nachricht ihres Todes, dann starb auch ihr Gatte und hinterließ einen einzigen Sohn, Paul, der alte Sprachen studierte und ein strebsamer junger Mensch war. Vor ungefähr sechs Jahren hatte er sich in B. an der Universität als Professor habilitiert. Man sagte in wissenschaftlichen Kreisen Gutes von ihm; er hatte weite Reisen unternommen, ein ganz tüchtiges Buch, „Beiträge zur koptischen Grammatik“, herausgegeben und betheiligte sich jetzt an einem Wörterbuch, von welchem die Eingeweihten mit großer Anerkennung sprachen. Der Generalin von Guttenberg hatte er bald nach seiner Ankunft in B. seinen Besuch gemacht und war von der Taute freundlich empfangen worden, aber zu einem herzlichen Verkehr hatte es nicht kommen wollen. Die beiden Naturen blieben einander innerlich fremd – die Anschauungen und Interessen des Professors wurzelten in der Wissenschaft, und für das vorwieged militärische Element im Hause der Tante fehlte ihm jedes Verständniß. Die alte Excellenz wiederum fand es jammerschade, daß ein so stattlich aussehender, leiblich wie geistig gut beanlagter Mensch nicht die militärische Laufbahn eingeschlagen habe; sie konnte es der Kousine wie dem Oberstabsarzt nicht verzeihen, daß sie diesen einzigen Sohn nicht zum Offizier gemacht hatten – er könnte jetzt schon Hauptmann erster Klasse sein, dicht vor dem Major! Statt dessen trug er nun den schwarzen Gelehrtenrock! Doch selbst in diesem hätte Gregory bei den zahlreichen Gesellschaften im Hause der Generalin eine Rolle spielen können, wenn dies irgendwie seine Absicht gewesen wäre. Aber nichts davon! Nachdem er sich ein paarmal diese an sich so amüsanten und lustigen Feste angesehen hatte, schlug er jede Einladnug zu größeren Zusammekünften beharrlich aus und erklärte auf Befragen ganz offen, er finde kein besonderes Vergnügen an solchen Gesellschaften und ziehe es vor, dann und wann allein zur Tante Excellenz zu kommen. Allzu oft geschah auch das nicht; doch herrschte bei dieser Gelegenheit stets ein freundlicher Ton zwischen der Generalin und ihrem Neffen – sie hatten beide ein gewisses, ein wenig herablassendes Wohlwollen füreinander, das völlig entgegengesetzten Stimmungen entsprang. Im übrigen war der Professor durchaus kein Stubenhocker und Bücherwurm, er hatte in einigen Familien Verkehr, war dort ein gern gesehener Gast, besuchte zuweilen Konzerte und Theater und konnte, falls ihn jemand anzuregen oder zu fesseln verstand, ein recht brauchbarer Gesellschafter sein. Heute nun, an diesem unerfreulichen Novemberabend, waren ihm seine Unterlassungssünden gegen die Generalin schwer aufs Gewissen gefallen; er konnte sich gar nicht entsinnen, wann er zuletzt bei ihr gewesen war, und wußte nur noch, damals war’s prächtiges Wetter gewesen und man hatte miteinander im Garten gesessen. Wenn die alte Dame jetzt böse war, hatte sie allen Grund dazu.

Auf seinem Wege zum Sofa der Tante wurde der Professor durch Frau Kanapé aufgehalten, die rasch aus dem Zimmer wollte und in ihrem Eifer, fortzukommen, zuert das Baumwollknäuel, dann den Häkelhaken, endlich die ganze Bettdecke zur Erde fallen ließ. Der neue Gast bückte sich einmal über das andere und hob alles ritterlich auf, die Haushälterin stammelte Entschuldigungen und Dankesworte, die Generalin trommelte ungeduldlg mit den Fingern auf den Tisch.

Endlich waren Tante und Neffe allein.

„Also Du lebst wirklich noch, mein lieber Paul?“ fragte die alte Dame in ironischem Ton und litt es etwas ungnädig, daß der Professor ihr die Hand küßte.

„Ich lebe, liebe Tante, aber ich ersterbe in Ehrfurcht angesichts Ihrer strengen Miene. Ich müßte untröstlich sein, wenn ich mir nicht sagen würde, daß diese Ihre Entrüstung etwas Schmeichelhaftes für mich hat.“

„Schmeichelhaft? Laß doch hören!“

„Ich bin sehr lange nicht bei Ihnen gewesen, Sie sind mir deshalb böse. Sie wären mir aber nicht böse, wenn Ihnen nicht einiges an meiner Person liegen würde, und wenn das der Fall ist, kann ich Sie auch leicht versöhnen.“

„Eine sehr bequeme Logik! Gegen Deine Professorenberedsamkeit kommt eine alte ungelenke Frau wie ich freilich nicht auf. Also setz’ Dich dahin und sage, was Du solange getrieben hast!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_550.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2022)