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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Mich vom Wahnsinn dieses Menschen überzeugen, Geh’ zu Deinem Freunde – Du brauchst nicht roth zu werden, er ist es doch – geh’ und sag’ ihm, er möge um zehn Uhr zur Stelle sein.“

Livia ließ den Arzt in den anstoßenden Saal rufen und entledigte sich ihres Auftrags. Er hörte ihr aufmerksam zu und bat sie dazwischen, ihm das eine und andere genauer zu sagen. Dann nickte er und rief: „Jetzt hab’ ich ihn!“

„Herrn Leisewitz?“

„Nein, entschuldigen Sie meine Unschicklichkeit, ich meine den Fürsten. Wenn mich nicht alles täuscht, stehen wir an einem Wendepunkt. Ich gehe sofort zum Fürsten.“

Livia hielt ihn erschrocken zurück. „Was werden Sie dem Fürsten sagen? Sie wollen mein Vertrauen mißbrauchen?“

„Vertrauen Sie mir – ich handle zum besten Ihrer Freundin. Ahnen Sie denn nichts? Haben Sie nie für Ihre Freundin gefürchtet?“

Livia ließ erblassend seine Hand fahren. „Jetzt versteh’ ich Sie. Das Los ihrer Mutter! O, mein Gott! Aber ich will fort! Solitude war niemals fröhlich, jetzt wird es ein Kerker!“

„Und ich bin der Kerkermeister, meinen Sie? Nein, theuerste Gräfin, fassen Sie Muth. Solitude wird sich nicht verändern und nur für mich ein Kerker sein, wenn Sie gehen –“

Livia fiel ihm ins Wort. „Ich werde nicht gehen. Ich kann erschrecken, bin aber nicht feige. Was auch kommen mag, ich bleibe bei Erna.“

Walter ergriff ihre Hände. „Dank, herzlichen Dank! Nicht nur um die Leidende, auch um den Arzt erwerben Sie sich unendliches Verdienst, denn –“

Wieder kam sie seiner Erklärung zuvor. „Doktor, Doktor – Sie sind ein guter Mensch – versprechen Sie mir, meine Freundin zu retten –“

„Ach, Gräfin, wenn es in meiner Gewalt stünde –“

„Geben Sie mir zum Trost nur ein schwaches Vielleicht, und Ihre Wünsche sollen erfüllt werden!“

„Sie stellen meine Redlichkeit auf eine harte Probe, denn was ich wünsche, wissen Sie.“ Er drückte ihre Hände ungestüm an seine Brust. „Dich wünsche ich, Dich! Aber Ihre Stellung, Ihre Familie wird Sie hindern –“

Sie lächelte unter Thränen, „Meine Familie! Sie Heuchler wissen ebenso sicher, daß ich mündig, wie daß ich Ihnen gut bin.“

„Livia!“ Er zog sie, die nicht widerstrebte, an sich und küßte sie.

*  *  *

Fritz Hagemann hatte in den drei Wochen, die seit der „Tannhäuser“–Aufführung vergangen waren, Großes geleistet; er war dabei stets von bezaubernder Liebenswürdigkeit, beim Geschäft wie beim Vergnügen, in den verschiedenen Kaffeehäusern unter Tags wie am Stammtisch im „Artushof“ bei Nacht. Es war ihm geglückt, in der großen Stadt eine Art von Sonnenbrüderschaft um sich zu sammeln, und der Kreis dieser neuen Freunde vergrößerte sich täglich. Seine seemännischen Ausdrücke, die er nach der Meinung der Wörder nicht auf der See, sondern auf dem Hafenplatz gesammelt hatte, heimelten seltsamerweise diese Landratten an, und so entwickelte sich bei ihnen eine feuchtfröhliche Zuneigung, die Hagemann schönstens erwiderte. Dabei erging es Hagemann wie so vielen: über dem Guten draußen bemerkte er den Schatten im Hause nicht. Leisewitz erschien in Nummer sieben nur nachmittags und auf kurze Zeit, und sein künftiger Schwiegervater ließ seine Entschuldigungen gelten – Studien, Proben, Aufführungen und vor allem der Hof nahmen ja den Aermsten Tag und Nacht in Anspruch! Um so besser, dachte Hagemann, so kann ich mich ungestörter Behaglichkeit hingeben und werde meine Tochter für mich haben. Emma verbarg ihren Kummer vor dem Vater, nicht aber vor Robert Lenz, Der gute Mensch wurde ihr in ihrer Verlassenheit vertraut wie ein Bruder. Er hätte wohl selbst des Trostes bedurft, denn so sehr der Intendant und Leisewitz aufeinander erbost waren, so hielten sie doch an ihrem Uebereinkommen bezüglich der neuen Oper fest, Sie wurde auf den Nimmermehrstag verschoben und ihr Schöpfer auf die nächste „Saison“ vertröstet. Lenz war zu stolz, die vergeßliche Prinzessin an ihr Versprechen zu erinnern, er mied Solitude, und Doktor Walter verließ das Schloß nicht mehr. Dabei waren die Mittel Roberts knapp. In der Freude, sein Werk aufgeführt zu sehen, dem heimlich geliebten Weibe für immer nahe zu bleiben, hatte er seine Schiffe verbrannt, seine feste Stellung in Wörde aufgegeben. „Für mich sind die friedlichen Aussichten nicht tröstlich,“ klagte er in düsteren Stunden, „draußen im Felde hätte ich gewußt, was thun, und wenn ich gefallen wäre, würde ich etwas Ganzes und Rechtes gewesen sein!“ Doch diese verzweifelten Stimmungen gingen vorüber. Er war ein Sonnenkind. Die Enttäuschung in der einen Hoffnung machte ihm die Erfüllung der anderen um so süßer. Er war ja der Geliebten nah, war ihr Freund! Ein Sonnenkind! Wie ihn in Wörde das wogende Meer für die Entbehrungen der Kleinstadt entschädigt hatte, so ersetzte ihm jetzt das Gewühl, das tausendgestaltige Leben der Großstadt die Natur. In jeder Brust dieser Hunderttausende wühlt die Leidenschaft wie in der meinen, dachte er. Welch ein Sturm, wenn sie entfesselt wären! Aber frommer Glaube, Pflichttreue, Schaffensfreude streiten dagegen und stellen die schöne Ordnung her. An die Arbeit also! Und er arbeitete. –

An jenem rauhen Tage, an dem Frau von Schönfeld in Solitude ihre Verlobung anzeigte, machte Herr von Aschau auf dem Schillerplatz seinen ersten Besuch. Er traf Hagemann nicht zu Hause an, aber die Tochter im düsteren kalten Lesezimmer. Die Unterhaltung währte nicht lange, doch Emma hatte genug gehört und errathen, um die bis jetzt mühsam behauptete Ruhe unwiederbringlich zu verlieren. Die Gunst der Prinzessin lockte Siegfried! Darum war es ihm lieb, daß sie ihre Opernbesuche eingestellt hatte – die Gegenwart der Braut störte ihn in seiner Romantik, in dem Bewußtsein, für die Hohe, Hehre zu singen! Darum ließ er sich nur noch auf kurze Augenblicke bei seiner Braut sehen, darum ließ er sich so gerne nach Solitude berufen! Thränenlos, mit geisterhaften Augen saß sie da und starrte vor sich hin.

Als Hagemann nach Hause kam, erschrak er über ihre Blässe. Sie aß nichts. „Kind, was fehlt Dir? Du bist krank! Ich werde unseren Bekannten, den Hofmedikus der Prinzessin, rufen.“

„Den am letzten,“ erwiderte sie mit bitterem Lachen, „Wir haben mit den Hofbekanntschaften kein Glück! Herr von Aschau war da und beklagte sich über Siegfried, ich fürchte, mit Recht. Die Hofgunst macht ihn übermüthig.“

Hagemann wurde nachdenklich. „Ich habe auch schon dies und das gehört, aber man nimmt sich vor dem Schwiegervater in acht und ich sehe nicht klar. Neulich begegnete mir Stenzel, der Hoffourier, Ich fand ihn verändert, mißtrauisch, zugeknöpft. Purzel, der Hanswurst, ist Knall und Fall entlassen worden, weil er mit einem Lakaien der Prinzessin Streit angefangen hat, und setzt, wie mir mein Freund, der Bassist Brummer, erzählte, das Haarkräuseln jetzt im Laden auf dem Schloßplatz fort. I, sicherlich ist nicht alles klar! Im Artushof erscheint Leisewitz nie. Hat er ein schlechtes Gewissen oder schämt er sich meiner bürgerlichen Gesellschaft? Ich werde den Jungen ansegeln. Er soll die Flagge zeigen –“

„Laß mich mit Siegfried reden,“ versetzte sie mit Festigkeit. „Wenn er heute abend kommt – vielleicht kommt er – so laß mich mit ihm allein, nur ein paar Minuten lang. Vater, ich ertrage die Qual nicht mehr!“ rief sie mit ausbrechender Leidenschaft, „ich will mein Urtheil hören!“

„Das ist ja fürchterlich,“ rief Hagemann. „Das kam doch nicht erst heute über Dich. Und mich läßt man fröhlich und guter Dinge sein, während mein Kind –“

„Beruhige Dich, lieber Vater! Vielleicht wird noch alles gut.“

Hagemann sah Emma von der Seite an. Ob wohl Lenz etwas wußte. „Kommt Lenz heute?“ fragte er laut.

„Ich hvffe es; er hat eine stille Art, Antheil zu nehmen, die wohlthut.“

„Lenz ist ein guter Kerl. Ich werde ihn zum ‚Sonnenbruder‘ vorschlagen.“

Leisewitz kam spät abends. „Liebes Bräutchen, guten Abend!“ Er legte seinen rothgefütterten Radmantel ab. „Es weht heute ein häßlicher Wind. Wo ist Papa?“

„Er schreibt Briefe in seinem Zimmer.“

„Endlich, endlich sind wir also einmal allein! Liebes, theures Herz –“

Emma trat zurück und wies auf einen Stuhl. „Nimm Platz!“

Er stutzte. „Was ist mit Dir vorgegangen? Du blickst ja heute ganz anders. Wir haben uns freilich eine Ewigkeit nicht gesehen – aber –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_543.jpg&oldid=- (Version vom 5.9.2022)