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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

der Scheidegg aus zum „Rigi des Berner Oberlands“, auf dem ein Wirthshaus auch zum Uebernachten einladet, hinüberzuwandern. Die nun kommende Strecke ist vielleicht die schönste der ganzen Bahn. Das dieser Schilderung beigegebene ganzseitige Bild (S. 545) ist etwas unterhalb Wengen aufgenommen und zeigt vorwiegend den Charakter des Lieblichen. Oberhalb Wengen kommen schon einige ernstere Linien in dieses Bild. Von dem Felskamm, der dem Gebirgszug entragt wie der Kiel eines gescheiterten Schiffes, sind vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden mächtige schwarze Blöcke herabgestürzt, hoch und fest genug, um jetzt Ziegenställen, die sich zwischen ihnen angesiedelt haben, als Schutz gegen neue Geschosse zu dienen. Dunkler Tannenwald nimmt uns auf. Auf seinem Untergrund erscheint der Firnschnee der Jungfrau noch weißer und die Pyramide des Silberhorns strahlt so blendend am tiefblauen Himmel, daß unser Auge den Glanz kaum zu ertragen vermag. Ist es nicht merkwürdig? Je höher wir kommen, desto höher erscheint die Jungfrau! Der Tannenwald lichtet sich. Im Wettlauf mit der Lokomotive bleibt ein Baum nach dem anderen zurück. Nur die kleinen haben noch eine Zeitlang Athem genug. Dann bleiben auch sie ermattet am Wege sitzen, und siegesgewiß stößt der Dampfhahn einen schrillen Jauchzer aus: wir sind auf der Wengernalp! – – Ist das die bräutliche Jungfrau, die wir von Bern aus bewunderten, rosig erglühend im Kuß der Abendsonne? Wohl ist es die Jungfrau, aber im Helm und Panzer Minervas, eine hehre, Achtung gebietende Göttin. Furchtbare Felswände warnen vor der Annäherung und droben in den Schießscharten blinken überhangende Eisstücke, bereit zum Schuß. Horch, was ist das? Am ganzen Himmel kein Wölkchen und doch unverkennbares Donnerrollen. Es nimmt zu, wächst von Sekunde zu Sekunde – seht ihr denn nicht? Da drüben, dort an der hohen, senkrechten Wand! Alles folgt mit den Augen der angegebenen Richtung: eine Lawine! Breit und schwer wie ein Wasserfall stürzt es herab, immer neue Massen folgen nach – Schnee mit Eisstücken untermischt – lagern sich auf der mittleren Terrasse, wachsen auf dieser an, bis sie gefüllt ist, und stürzen noch eine Stufe tiefer, bis sie endlich im Trümletenthal anlangen und hier den Bach nähren, der, in einem Spalt verschwindend, eine halbe Stunde von Lauterbrunnen mit wahrhaft höllischer Gewalt aus den Felsen hervorbricht: der berühmte Trümletenfall.

  Eiger.   Mönch.   Jungfrau. 0 Silberhorn.

Blick auf die Jungfraukette bei der Station Scheidegg.

Hier sollte man mindestens einige Stunden Rast machen. Gemächlich auf der Terrasse vor dem Gasthof sitzend, kann man ohne Erhitzung, ohne Anstrengung die Großartigkeit eines Hochgebirgspanoramas aus nächster Nähe genießen. Ebenso sehr wie die Jungfrau verdienen 1hre Nachbarn Mönch und Eiger mit ihren Gletschern Bewunderung. Besonders der Eiger zeigt von hier aus einen überraschend kühnen Bau, und es gehört gar nicht zu den Seltenheiten, daß man hier eine Besteigung dieser herrlichen Pyramide von A bis Z mit dem Fernrohr verfolgen kann. Noch ist aber unser Sehnen nicht ganz gestillt. Die Kleine Scheidegg (2069 m), der Scheitelpunkt zwischen Lauterbrunnen und Grindelwald, liegt so verlockend nahe, daß wir keine Ruhe haben, bis wir droben sind. In einer guten Viertelstunde ist die Höhe erreicht, und nun hegen wir wirklich für den Augenblick keinen Wunsch mehr als: hier bleiben. Zu dem bisher Geschilderten ist mit einem Ruck eine mächtige Erweiterung der Aussicht hinzugekommen. Unser Berg, der auf der Lauterbrunner Seite so schroff abfällt, dacht sich nach der Seite, die sich nun aufgethan hat, sanft ab. Nur der unterste Theil ist etwas steiler und verdeckt noch den Thalgrund von Grindelwald, während es drüben ebenso allmählich wieder ansteigt zur Großen Scheidegg, der Wasserscheide zwischen Grindelwald und Meiringen. In einer Reihe mit dem Eiger halten der Mettenberg, der Fuß des Schreckhorns, und das Wetterhorn gegen Süden und Osten Wacht, während im Norden die Faulhornkette das Thal gegen rauhe Winde schützt.

Welche Bedeutung man hier oben der Wengernalpbahn beimißt, mag man daraus ersehen, daß im vergangenen Herbst das noch sehr gut erhaltene Scheidegghotel niedergerissen und durch ein neues größeres ersetzt wurde. Und in der That, wenn man bedenkt, daß schon bisher eine förmliche Völkerwanderung zu Fuß, zu Pferde und mit Sänfte auf diesem Saumpfad einherzog, so darf man wohl erwarten, daß infolge des neuen, angenehmeren und billigeren Verkehrsmittels der Besuch ganz außerordentliche Verhältnisse annehmen wird. Für diejenigen, welche es vorziehen und vermögen, die Berge auf eigenen Füßen zu ersteigen, giebt es noch bahnlose Gipfel genug, ja sogar hier oben winken ihnen noch solche von verschiedenster Höhe und Schwierigkeit: die Spaziergänge auf das Lauberhorn und den Männlichen, die schon Uebung erfordernde Besteigung des Tschuggen, die Wanderungen zu der interessanten Eishöhle des Eiger und zur Klubhütte am Guggigletscher und endlich die nur unter guter Führung und bei genügender eigener Leistungsfähigkeit anzurathenden Touren auf Eiger, Mönch, Jungfrau oder Silberhorn. Die Jungfraubesteigung ist von dieser Seite außerordentlich schwierig und gefährlich. Man lese die Beschreibung von Güßfeldts Abstieg („In den Hochalpen“, S. 170 u. ff.). Spräche der Erzähler nicht in der Ich-Form, so würde man kaum glauben, daß er aus solchen Fährnissen lebend davongekommen ist.

Die Sonne rüstet sich zum Untergang. Wer nicht auf der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_541.jpg&oldid=- (Version vom 3.10.2022)