Seite:Die Gartenlaube (1893) 540.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

ein breiter Bergrücken von mehr als 2000 Metern Höhe, den man bisher entweder umgehen oder umfahren oder im Schweiße seines Angesichts übersteigen oder überreiten mußte. Wer hätte nicht schon von diesem Bergrücken gehört! Wengernalp und Kleine Scheidegg sind Namen, an die jeder Schweizerreisende mit Entzücken, jeder, der Reisepläne macht, mit Sehnsucht denkt. Und doch vielleicht nicht alle mit Entzücken. Die erste Stunde Wegs, von Lauterbrunnen nach Wengen, ist einer der steilsten Zickzackpfade weit und breit, heiß beim Hinansteigen, eine „Kniebrechete“ beim Herunterkommen, und auch die dann folgenden anderthalb Stunden bis zur Wengernalp auf vom Regen ausgewaschenen Wegen waren manchmal recht mühsam. Und erst auf der Grindelwalder Seite, unterhalb Alpiglen! Bei trockenem Wetter ging es allenfalls noch an, bei Regenwetter aber betrachteten sämtliche Rinnsale den grabenartigen Fußweg als ihren Hauptabzugskanal, den der Wanderer nun mit dem Wasser und schiefrigem Schlamm theilen mußte, Für das stärkere Geschlecht bis zu einem gewissen Alter sind das zwar nur kleine Leiden, die vielleicht zur Kategorie der angenehmen Strapazen gerechnet werden können. Aber eben so groß, wenn nicht noch größer, ist wohl die Zahl derer, denen durch Mühseligkeiten dieser und anderer Art der Einblick in die Großartigkeit der Hochgebirgswelt, das Einathmen der belebenden Bergluft verwehrt war. Sagt der Naturfreund mit einer gewissen Berechtigung: die jungfräuliche Schönheit der Natur soll nicht durch den Rauch und Lärm der Lokomotive entweiht werden, so darf der Menschenfreund dem entgegenhalten, daß auch dem Schwachen und Erholungsbedürftigen die körperliche und geistige Erfrischung ermöglicht werden soll, welche der Gesundbrunnen der Alpen in unversieglicher Fülle ausströmt.

Darum hat man, meiner Ueberzeugung nach, alle Ursache, sich des Unternehmungsgeistes zu freuen, der die finanziellen und technischen Mittel fand, um über die Kleine Scheidegg einen Schienenweg zu legen. Bereits im vergangenen Herbst war der Bahnbau so weit vollendet, daß am 1. Oktober eine Probefahrt ohne Unterbrechung von Lauterbrunnen bis Grindelwald ausgeführt werden konnte, und jetzt, im Juni 1893, ist die Linie dem öffentlichen Verkehr übergeben worden.[1] Um sich über die Bedeutung dieses Ereignisses klar zu werden, ist es nöthig, sich das Gelände zu vergegenwärtigen.

Damit wir eine ihrer vollkommensten Schöpfungen aus nächster Nähe bewundern können, hat die Natur selber zu Füßen der Jungfrau eine Art Aussichtswarte errichtet. Es ist der Höhenzug, der mit seinem Südende sich ans Hochgebirge anlehnt, im Norden schroff gegen Zweilütschinen abfällt. Am Fuße ein massiger Bau, verschärft er sich oben zu einem zackigen Grat, dessen Westseite von vielen Runsen durchfurcht ist. Drei aussichtsreiche Gipfel krönen den Kamm, das Lauberhorn, zunächst den Hochalpen, der wilde Tschuggen und der Männlichen. Letzterer ist einer der schönsten Punkte des Berner Oberlandes, ja vielleicht der Schweiz. Auf der Scheide zweier großartiger Thäler, des Lauterbrunner und des Grindelwalder Thales, stehend, überschaut man beide wie mit einem Blick. Den Silberbändern der schwarzen und weißen Lütschine folgend, schauen wir links in den grünen, häuserübersäten Thalkessel von Grindelwald, majestätisch überragt vom Wetterhorn, dem die Gletscher wie weiße Locken vom Haupte wallen, rechts in das von senkrechten Felsen eingefaßte Lauterbrunner Thal, in das aus den Tannenwaldungen vor Mürren der Staubbach hinabschwebt, dem im Hintergrunde, vom Gletscher des Breithorn genährt, der Schmadribach seine Wasser über die Felsen zuwälzt. Und gerade vor uns, da stehen die drei, deren Schönheit zu schildern meine Feder sich zu schwach fühlt, Altmeister Gottlieb Studer, der in seinem 86jährigen Leben soviel zur Ausbreitung und Vertiefung der Alpenkunde gethan, hat ein treffliches Panorama vom Männlichen gezeichnet, das deutlicher spricht. Und drei Genfer Maler, Furet, Baud-Bovy und Burnand, die den malerischsten Aussichtspunkt der Schweiz suchten, um ein Kolossal-Panorama für die Ausstellung in Chicago zu malen, entschieden sich für den Männlichen.

Der Schienenweg nun, der die Schönheiten dieses Bergrückens leichter zugänglich machen soll, läßt den Männlichen völlig unberührt. Am entgegengesetzten Ende, bei der Scheidegg, am Fuße des Eiger, ist die Station, wo man die Bahn verlassen muß, um nahezu ebenen Wegs zum Männlichen zu gelangen. Aber nicht einmal auf der Scheidegg oder auf der Wengernalp kann die Eisenbahn als ein störendes Element betrachtet werden. Wer es nicht gesehen hat, macht sich keinen Begriff davon, zu welcher Liliputerscheinung der Mensch und seine Werke im Hochgebirge zusammenschrumpfen, wie sie erst recht dazu dienen, uns einen Maßstab für die gewaltigen Größenverhältnisse zu liefern, von denen wir hier umgeben sind. Als ich im vorigen Jahre nach Mürren wanderte, da hatte ich beim Hinüberblicken nach der anderen Thalseite meine Freude an den schöngeschwungenen, soliden Steinbögen, welche an den Felswänden hin die neue Bahnlinie nach Wengen bezeichneten, und ich fragte mich, ob dieselben dereinst nach Jahrhunderten, wenn man nur noch im Luftballon Bergfahrten macht, ebenso sehr die Bewunderung unserer Nachkommen hervorrufen werden, wie wir heute z. B. die römischen Aquaedukte an den hohen Thalwänden des Val Tournanche bewundern. Plötzlich ein schriller Pfiff. Ein kleiner dunkler und ein etwas längerer heller Gegenstand bewegen sich langsam im Thal vorwärts, kriechen über eine Brücke, die ich früher nie gesehen hatte, und steuern gerade auf die Felswand los. Es ist ein Arbeitszug der Wengernalpbahn, eine Lokomotive und drei mit Balken beladene Wagen, von ersterer aufwärts geschoben. Sah das aber aus wie ein Bahnzug? Eine Ameise ist’s, die einen Holzsplitter oder sonst einen Fund dem Bau zuträgt, ein Spielzeug, welches das Riesenfräulein von Burg Nydeck gerade so vergnügt ihrem Vater in der Schürze heimbringen würde wie den Bauer mitsamt seinem Pflug Anno dazumal.

Lassen wir also unsere Vorurtheile zu Hause und steigen wir unbefangen in einen der hübschen luftigen Wagen, die zur Abfahrt von Lauterbrunnen bereit stehen. Giebt es etwas Herzerfreuenderes als dieses lachende Wiesengrün von Lauterbrunnen? Eben fuhren wir noch durch das enge Thal hin unter der dunklen Hunnenfluh, da plötzlich thut sich’s auf. Rechts aus luftiger Höhe schweben die aufgelösten Wellen des Staubbachs hernieder, umwoben von zarten Schleiern, in deren Wasserstäubchen sich ein Regenbogen wölbt, links steigen die Wellenlinien saftiger Matten vom Ufer der schnell dahinrauschenden Lütschine empor nach Wengen, übersät mit malerischen Wohn- und Vorrathshäuschen und schattigen Ahornbäumen, und oben drüber glänzt in wolkenloser Reinheit die Königin der Berge, die Jungfrau. Hinauf, zu ihr! Welch wohliges Gefühl, dem Staub und Getriebe der Straße entronnen zu sein und nun leicht wie ein Vogel aufwärts zu schweben in die Gefilde reiner Bergluft! Sogar dem leidenschaftlichen Fußgänger gefällt es nicht übel, einmal zur Abwechslung mühelos zu genießen, was ihm die Natur beut. Wie mag erst dem Schwachen, dem bisher solcher Genuß ganz versagt war, zu Muthe sein!

Unser Miniaturzug hat das Thal durchquert und rollt in gleichmäßig ruhigem Lauf unter einer senkrechten Felswand hin bergauf. Wir kreuzen den Zickzack des Fußweges. Noch einige Minuten und wir erreichen, in weitem Bogen nach rechts schwenkend, die Terrasse von Wengen. Das lieblich gelegene Dörfchen birgt verschiedene Pensionen, die von Schweizern und Deutschen gern zu längerem Aufenthalt benutzt werden. Die Gebäude im Thalgrunde haben schon das zierliche Format der Häuschen angenommen, wie man sie in den Schnitzereiläden ausgestellt sieht. Drüben auf der jenseitigen Terrasse schauen die Gasthöfe von Mürren behäbig ins Thal, Riesengebäude, und doch wahrscheinlich schon bald wieder zu klein, um alle die Gäste zu beherbergen, welche die Drahtseilbahn unermüdlich hinaufbefördert. Alle wollen hinauf, wenige wieder herunter von diesem entzückenden Punkt.

Unsere Maschine hat nach der steilen Anfahrt einen tiefen Zug aus dem Wasserreservoir gethan und setzt nun, vor Feuereifer schnaubend, ihren Weg fort. Einige mit Bergstöcken bewaffnete junge Leute sind ausgestiegen, um in unmittelbarem Anlauf die Warte des Männlichen zu erklimmen. Die meisten ziehen vor, erst der Wengernalp einen Besuch zu machen unb dann von

  1. Die Wengernalpbahn ist eine Zahnstangenbahn, Leitersystem Riggenbach nach Patent der Maschinenfabrik Bern, und hat 4½ Millionen Franken gekostet. Größte Steigung 25%. Spurweite 80 cm. Kleinster Kurvenradius 60 m. Fahrgeschwindigkeit 7 bis 9 km in der Stunde. Fahrzeit etwa 2½ Stunden. Stationen: Lauterbrunnen 799 m, Wengen 1277 m, Wengernalp 1877 m, Kleine Scheidegg 2069 m, Alpiglen 1618 m, Grund 946 m, Grindelwald 1037 m. Direktor der Bahn ist Hans Studer, derselbe, der auch die Oberländer Thalbahnen und die Mürrenbahn (Seilbahn und elektrische Bahn) leitet, ein um die Hehung seines engeren Vaterlandes sehr verdienter Mann. Der Bau selbst stand in der Hauptsache unter der Leitung des Ingenieurs Koller aus Interlaken.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_540.jpg&oldid=- (Version vom 3.10.2022)