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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

erinnerst Du Dich? – führte im Zickzack in den Garten hinab, wo nahe dem See das zweite, prächtigere Haus, meiner armen Mutter letzter Wohnsitz, stand. Das Gitterthor vor jener Treppe blieb immer verschlossen – Du weißt, warum! Zur Rechten vom Eingang lag eine Art Laube, ein altes Gemäuer, von Epheu überwuchert, mit einer Bank hüben und drüben. Inmitten schaute der Himmel durchs morsche Dach herein; ein Brunnen plätscherte dem Eingang gegenüber. Man konnte sich in einem Kloster denken. Von der einen Bank sah man auf die Wipfel des Gartens, von der andern ein Stück von der Straße und die jenseitige Mauer und drüber Hügel über Hügel, zu höchst eine schroffe Bergwand.“

„Nach Deiner genauen Beschreibung mußt Du oft dort gewesen sein. O, Dio! Dio!“ rief Livia und rang die Hände, „früher saßen die Armen meiner Mutter dort und warteten auf die Suppe und das Glas Wein, das man ihnen reichte!“

„Früher,“ sagte die Prinzessin bitter, „früher saßen die Armen dort und dann ich, die allerärmste. Ja, es war mein Platz. Wenn mich über den häßlichen Auftritten im Hause, über der Angst vor dem Schrecklichsten die Verzweiflung packte, lief ich durch Euer Haus die Treppe hinauf und verbarg mich vor den Meinigen in der verlassenen, gemiedenen Ecke. Einmal floh ich wieder hin; ich stahl mich über den Flur, an Euren Thüren vorbei, und hörte Dich und Deine Geschwister. Ihr waret so fröhlich, denn es war der Tag der Santa Lucia, Euer Christfest. Die Luft war sommerlich mild, die Welt so heiter. Ich aber duckte mich in meine Ecke und weinte bitterlich. Da ergriff jemand meine Hände, zog sie mir sachte vom Gesicht und sagte – in Eurer Sprache: ‚Warum weinen Sie, liebe Kleine? Hat Sie Papa ausgezankt oder haben Sie eine schlechte Schulnote bekommen oder ist Ihre Lieblingspuppe heiser?‘“

„So unverschämt kann nur ein Mann sein.“

„Ach, wir Menschen! So gewiß ich Grund hatte, unglücklich zu sein, so gewiß ich unglücklich war, so gewiß empfand ich in jenem Augenblick nur noch die Kränkung, für ein Kind gehalten zu werden. Ich richtete mich kerzengerade auf, doch der Unbekannte überragte mich hoch. Stelle Dir Leisewitz älter vor, mit – ja, mit mehr Geist auf der Stirn und in den Augen! Der Zorn giebt uns immer das Lächerlichste ein. ‚Ich bin nicht Ihre liebe Kleine,‘ sagte ich, ‚ich bin Prinzessin Erna.‘ Und da – ja, es war ungewöhnlich, übertrieben, doch von ihm geschah’s mit solcher Anmuth, daß es natürlich schien – er ließ sich auf ein Knie nieder, und indem er meine Hand an seine Brust führte, sprach er: ‚Nicht weil Sie Prinzessin, sondern weil Sie unglücklich sind, bitte ich Sie, mir zu perzeihen.‘ ‚Und wer sind Sie?‘ fragte ich von oben herab. Da war er leicht wie eine Feder aufgesprungen und erwiderte mit einem Lächeln, das mich ebenso wie seine Rührung bewegte: ‚Ich bin nur zeitweilig Prinz. Noch einmal, vergeben Sie mir, und ich will Sie nicht länger stören!‘ Ich fühlte mich beim innigen Klang seiner Stimme erleichtert und bedauerte es schmerzlich, als er dann ging. Er grüßte noch einmal – wie Leisewitz, ein wenig zu schwungvoll – und dann war er verschwunden.“

„‚Bisweilen Prinz.‘ – sicherlich war er ein fahrender Künstler.“

„Mag sein, jedenfalls ein Mann mit warmem Herzen, ohne Falsch. – O, ich erinnere mich an jenen Tag besser als an das Gestern. Ihr fuhret nachher in große Gesellschaft; meine arme Mutter schlief; in unserem Hause, im Garten war es totenstill. Ich saß in meinem Zimmer am Kaminfeuer, dann sah ich vom Fenster aus in die sinkende Nacht. In einem Dorfe läuteten die Glocken; der Dampfer mit rothen Lichtern glitt über den schwarzen See – die Einsamkeit legte sich über die Welt. Da stieg der Mond über den jenseitigen Höhen auf, groß, eine tote Sonne, und der See begann zu athmen, zu leuchten. Ein Boot fuhr in die glitzernde Bahn. Ein Fischer oder Träumer stand aufrecht darin und bewegte sacht die Ruder. Ich glaubte – ich dachte –“

„Nun kommt der Unbekannte als Prinz – natürlich als Märchenprinz im Sammetwams, mit einem Federhut.“

„Ich öffnete das Fenster. Der Ruderer wandte das Boot und verschwand hinter den Bäumen des Gartens. Und dann ertönte Gesang – o, Livia, das war die Stimme des Unbekannten, die mir den Abend lang im Ohr geklungen hatte, aber jetzt im Gesang! Die ganze Welt mit Leid und Lust war in dieser Stimme. Er sang – was galten mir die Worte? – er sang mir meine verlorene Jugend!“

Livia drückte die Freundin an sich. Nach einer Pause sagte sie: „Ich kann Dir nicht ganz nachempfinden, aber ich kann mit Dir fühlen. Nur in einem Punkt gieb mir recht: es mußte nicht gerade Leisewitz kommen, um Dich an jene Zeit zu erinnern. Es sind seitdem – einige Jahre vergangen, und diese Brüder in Apoll sehen sich alle mehr oder minder ähnlich!“

Da zuckte Erna wie ein Blitz empor. „Glaubst Du, weil ich eine Deutsche bin, hätte ich kein Ohr für Stimme, Vortrag, Kunst? Es giebt auf der Welt nur zwei solche Stimmen, heute vielleicht nur noch eine! Aber Du bist ebenso kalt wie die anderen! O, hätte ich geschwiegen! – Geh’, verlaß mich! – Marie! Marie!“ Eine Kammerfrau erschien mit verschlafenem Gesicht in der Thür. „Begleiten Sie die Gräfin nach ihrem Zimmer!“

Gräfin Casasola kannte ihre Herrin. Sie machte einen tiefen Knicks. „Hoheit, gute Nacht!“ Da lag ihr die Freundin am Halse. „Sei gut, Livia! Ich will ihn ja nur hören, will nur den Trost, das Leid vergessen, das mir einzig diese Stimme gewährt – giebt es einen bescheidneren Wunsch, ein unschuldigeres Glück? Was sollen wir thun, daß er bleibt? Wenn wir mit seiner Braut redeten –“

„Das geht nicht an.“

„Was sollen wir also thun?“

Livia zog einen rothen Shawl über den Kopf und schwang die Enden über die Schultern. „Beruhige Dich, liebe Erna!“ sprach sie, „wir werden ihn halten. Er ist sehr eitel, und eitle Menschen sind so leicht glücklich zu machen!“ – –

Eitel war Siegfried Leisewitz – dieser Wahrheit konnte sich sogar seine Braut nicht ganz verschließen, als sie mit ihrem Vater am folgenden Tag den Verlobten in seinem Daheim besuchte. „In Wörde würde das nicht angehen,“ meinte Hagemann, „aber hier und in meiner Begleitung – ich bin wirklich neugierig.“ Und wie neugierig war erst Emma! Sie erwartete eine Art Museum, Kunstschätze, gesammelt in all den Ländern, die der große Mann bereist hatte, Gruppen von Palmen, eine vielleicht verschwenderische, doch gediegene Pracht. Was sie fand, war ein Leisewitz-Museum. Die Möbel hatten wahrscheinlich mehr Geld gekostet als diejenigen in ihrer Gastwohnung, doch sie waren im gleichen Geschmack. Unwillkürlich dachte Emma an den Ladengehilfen, der in Wörde die Schaufenster mit den Fruchtkaffeedüten schmückte – so ungefähr würde auch der die Zimmer eingerichtet, die Möbel gestellt haben. Ein Steinwayflügel und ein altpersischer Teppich im Arbeitszimmer – beides Geschenke – waren allerdings sehr kostbar. An allen Wänden hingen vertrocknete Lorbeerkränze mit ellenlangen Atlasbändern, photographische Bildnisse in allen Größen, Bildnisse in Oel- und Wasserfarben, gute und schlechte: Leisewitz in allerlei Operntrachten, Leisewitz mit und ohne Schnurrbart, Leisewitz im Frack mit allen seinen Orden und Leisewitz im Schlafrock. Im Speisezimmer stand an der einen Schmalseite seine Marmorbüste, an der anderen seine überlebensgroße Büste in Gips, beide mit olympischem Gelock, das Peppi Purzel niemals ohne Lächeln betrachtete; an den Langseiten waren auf Sockeln und unter Glasstürzen alberne Lorbeerkränze, Becher und ähnliche Ehrengeschenke aufgestellt.

Gegen den frischen Blumenschmuck der Tafel stach das welke Zeug an den Wänden, das an einen Kirchhof erinnerte, häßlich ab.

Beim Begrüßungsmahl entfaltete Leisewitz großen Aufwand. Er sagte sich, daß dem Schwiegervater seine Sparsamkeit gefalle, aber eine Ausnahme zu seinen Ehren schmeicheln werde. Purzel war heute nur Handlanger; die beiden gemietheten Aufwärter sahen wie Engländer aus und sprachen französisch. Der dritte Kellner, der als Haushofmeister mit steifer Würde neben dem Anrichttisch stand, sprach überhaupt nicht; er lenkte den Gang der Ereignisse mit seinem Mienenspiel, mit einem Wink seiner Augen, einem Zucken der Brauen. Da er eine schwere goldene Kette um den Hals trug, hielt ihn Hagemann anfangs für einen eingeladenen Rathsherrn, später, als ihm die Erscheinungen im Raume nebelhaft verschwammen, für den Geist Segebergs. Herr von Aschau war der dritte Gast, für Emma ebenso unwillkommen wie unverhofft. Ihr Vater fühlte sich durch die Anwesenheit eines alten Bekannten, der inzwischen einen so schönen und mundgerechten Titel gewonnen hatte, angenehm gekitzelt; das Leisewitz-Museum fand seinen Beifall, das

Mahl entzückte ihn. Vom feurigen Estremadura nach der Suppe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 528. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_528.jpg&oldid=- (Version vom 4.9.2022)