Seite:Die Gartenlaube (1893) 522.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

hier eine Suppe eingebrockt, an deren Art manch einer schon sein halbes Leben lang zu würgen gehabt! Nun aber hatte er sich gefaßt, zu seiner gewöhnlichen vornehmen Anmuth, der ein Beigeschmack geistlicher Würde nicht übel stand, und indem er dem Knaben die Hand auf die Schulter lehnte und dabei sogar dessen Ohrläppchen zwischen die Finger nahm, sagte er: „Von Sterben ist hier keine Rede, und daß ich Euch den frommen Vätern von St. Menehould nicht wieder zusende, dafür ist ebenfalls gesorgt, wenn Ihr wirklich derjenige seid, von dem mein Vetter Nievern mir geschrieben, wie es denn allerdings den Anschein hat. Will ich es nicht auf ewig mit dem Viktor, meinem Herzbruder aus der Jugend her, verderben, so muß ich Euch sogar allen Vorschub leisten, damit Ihr heil nach Hause gelangt. Den Wunsch aber, daß die Herren von St. Menehould nicht gerade mich nach Euch zu fragen haben möchten, werdet Ihr ja wohl begreiflich finden. Schwerlich freilich wird er sich erfüllen, da meine Leute Euch gesehen haben ...“ Er stockte, in sorgenvoller Ueberlegung.

(Fortsetzung folgt.)




Der Hexenwahn und seine frühesten Bekämpfer.

Von Georg Winter.

So unzweifelhaft berechtigt der Satz ist, daß die Geschichte der Vergangenheit die beste Lehrmeisterin der Gegenwart sei, daß eine wahre und begründete Erkenntniß der Gegenwart nur aus einem eindringenden Studium der Geschichte erworben werden kann, so grundverfehlt wäre es, wollte man diesen Satz nun auch umgekehrt anwenden, mit den Anschauungen und Vorstellungen der Gegenwart an die Ereignisse der Vergangenheit herangehen und sie an diesem Maßstab messen. Jede geschichtliche Erscheinung muß vielmehr aus dem Geiste der Zeit, in der sie entstand, begriffen und wenn möglich erklärt werden. Mag jene Erscheinung nach unseren heutigen Begriffen und Vorstellungen sich als noch so unerklärbar darstellen, es muß versucht werden, sie aus dem Ganzen, von dem sie ein Theil ist, verständlich zu machen. In dieser Loslösung von den Anschauungen, in denen wir aufgewachsen sind, liegt die vornehmste Schwierigkeit einer vorurtheilslosen Beurtheilung vergangener Ereignisse und Zustände.

Ganz besonders schwer wird uns Kindern einer bildungs- und aufklärungsstolzen Zeit dieses Sichversenken in die Vorstellungswelt der Vergangenheit gegenüber den mannigfachen Erscheinungen, welche in dem Volksaberglauben ihre Wurzel haben. Wir sind gewohnt, mit einer Art von souveräner Verachtung auf die Reste des Aberglaubens, welche sich in manchen Kreisen unseres Volkes bis in die Gegenwart erhalten haben, herabzublicken, und vermögen uns nur schwer vorzustellen, daß diese Reste eben – Reste sind, Reste einer Zeit, in der das, was wir als Aberglaube mit voller Klarheit erkannt haben, sichere und hochgehaltene Ueberzeugung nicht bloß der niederen Schichten des Volkes, sondern der Gesamtheit desselben einschließlich seiner geistigen und sittlichen Führer gewesen ist. Daß wir aber diese Ueberbleibsel einer scheinbar längst überwundenen Zeit zuweilen doch wieder aufleben sehen, nicht nur in den niedersten Schichten, sondern in Kreisen, welche ihrer Stellung nach zu den geistigen Führern des Volkes gehören sollten, hat noch kürzlich mit erschreckender Deutlichkeit die vielbesprochene Teufelaustreibung gelehrt, welche ein katholischer Geistlicher mit einem angeblich besessenen Knaben vorgenommen hat. Wir kamen uns wie in eine andere Welt versetzt vor, als wir die Berichte darüber und über die gerichtlichen Verhandlungen, die sich an den berüchtigten Vorgang anschlossen, zu lesen bekamen. Gewiß ist dieses Vorkommniß ein beklagenswerther Anachronismus; zugleich zeigt es uns aber, wie schwer selbst durch die größten Fortschritte der Wissenschaft die Mächte der Finsterniß völlig zu überwinden sind. Und wenn solches noch in unserer aufgeklärten Zeit möglich ist, so sollten wir daraus Veranlassung nehmen, die verwandten Erscheinungen der Vergangenheit milder zu beurtheilen, als wir es gewöhnlich thun. Je mehr wir verpflichtet sind, solchen abgestorbenen Resten der Vergangenheit in der lebensfrohen Gegenwart mit allem Nachdruck entgegenzutreten, um so mehr können sie uns zugleich dazu dienen, die Vergangenheit selbst, aus der jene Reste stammen, leichter zu verstehen und uns klar zu machen, daß jene Erscheinungen des Aberglaubens in einer Zeit, in der die heutigen Fortschritte der Wissenschaft noch nicht gemacht waren, doch nicht so unerklärlich sind, wie uns das heutzutage auf den ersten Blick erscheinen will. Wir werden dann die Vergangenheit unbefangener und deshalb gerechter beurtheilen, indem wir bedenken, daß vielleicht dereinst auch vieles, was wir als unumstößliche Wahrheit erkannt zu haben glauben, von einer höheren wissenschaftlichen Erkenntniß ebenso als „Aberglauben“ betrachtet werden wird wie von uns so manche Erscheinung der Vergangenheit. Das Fortschreiten der wissenschaftlichen Erkenntniß steht eben in umgekehrten Verhältniß zu der, wenn wir so sagen sollen, Rückwärtsentwicklung der abergläubischen Vorstellungen; je größer das erstere, um so kleiner das Gebiet, auf welchem sich die letzteren zu erhalten vermögen. Denn eben das, was die wissenschaftliche Erkenntniß nicht zu lösen und zu erklären vermag, fällt am leichtesten dem Aberglauben anheim. Je geringer die erstere, desto größer ist die Neigung, das Unerklärliche auf übersinnliche, übernatürliche Einflüsse zurückzuführen.

Diese Neigung ist es, der die furchtbare Erscheinung des Hexenwahnes vergangener Jahrhunderte, von der wir in jenem Wemdinger Vorgange ein plötzliches Wiederaufleuchten mit Verwunderung erlebt haben, ihre Entstehung verdankt. Die Zeitverhältnisse und selbst die wissenschaftlichen Bestrebungen der Epoche, in welcher der unglückliche Irrwahn entstand, waren ein mächtiges Förderungsmittel jener Neigung. Es war eine Zeit, in welcher die religiös-kirchlichen Fragen die Aufmerksamkeit und die geistige Arbeit so ausschließlich in Anspruch nahmen, daß es für die wissenschaftlichen Bestrebungen auf anderen Gebieten an Muße und Neigung fehlte. Denn nicht das als finster und abergläubisch verschrieene Mittelalter war es, das den Hexenwahn mit allen seinen furchtbaren Folgen hervorbrachte, vielmehr gerade die Zeit des Uebergangs vom Mittelalter zur Neuzeit, das vielgepriesene Jahrhundert des Humanismus und der Renaissance, das Jahrhundert des Zusammenbruchs der alten und der Begründung einer neuen Kirche. Nicht in den Zeiten allgemeinen geistigen Niedergangs trat der unglückselige Wahn auf, vielmehr trieb er gerade seine traurigsten Blüthen, als das geistige Leben durch die Wiedererweckung des klassischen Alterthums, das kirchlich-religiöse Leben durch Martin Luther besonders kräftige und nachhaltige Triebe erhielt. In derselben Zeit, in welcher eine begeisterte Schar geistig hochbedeutender Männer die humanistischen Studien mit schwärmerischem Eifer betrieb, in welcher Kunst und Wissenschaft eine glänzende Entwicklung nahmen, flammten die Scheiterhaufen der unglücklichen Opfer eines grausigen Wahns in Deutschland auf. Schier unbegreiflich scheint uns dieser Widerspruch, dieses Nebeneinander einer hohen geistigen Kultur und eines furchtbaren und in seinen Folgen verhängnißvollen Aberglaubens. Aber eben in der Einseitigkeit dieser hohen Kultur liegt die Erklärung dieses scheinbaren Widerspruchs. Eben weil die führenden Geister der Nation sich immer ausschließlicher den außerweltlichen Fragen zuwandten, verloren sie die Grundlagen der Erkenntniß der materiellen, sinnlichen Welt fast gänzlich aus den Augen; in übersinnliche Fragen vertieft, waren sie geneigt, auch in den Vorkommnissen des täglichen Lebens ein beständiges Eingreifen und Walten übersinnlicher Mächte und Kräfte anzunehmen. Wer wüßte nicht, wie sehr Luther selbst in den Stürmen seiner Gewissenskämpfe von der leibhaftigen Existenz und unheilvollen Wirksamkeit des Satans überzeugt war! Wie er trotz der Höhe seiner sittlichen Weltanschauung die Anfechtungen des bösen Prinzips, mit denen er zu kämpfen hatte, nicht auf innere Vorgänge des Geistes- und Seelenlebens, sondern auf unmittelbare Einwirkungen des Satans zurückzuführen geneigt war, so herrschte in jener Zeit höchster religiöser Erregung ganz allgemein die Vorstellung vor, daß besonders schwere und auffallende Unglücksfälle, für die man keine Erklärung fand, auf unmittelbare Einflüsse des Teufels zurückzuführen seien. Von dieser Anschauung aber zu der anderen, daß sich der Teufel zu diesen Einwirkungen bestimmter mit ihm im Bunde befindlicher Menschen bediene, war nur noch ein kleiner Schritt.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_522.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)