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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Im Wagen, der nur langsam fahren konnte, lehnte sich Leisewitz zurück und versank in Grübeln. Lästert, lacht, dachte er, ich bin doch der Glücklichste von Euch allen … Dieser Aschau! Als ob man einen Künstler meines Ranges wie einen Zeisig in den Käfig sperren, wider seinen Willen halten könnte! Das sollte ihm sauer werden. Der Henker hole seine guten Rathschläge. Eigentlich waren sie beleidigend, eigentlich war ich zu höflich. Aber ich bin heute so glücklich! Mein liebes schönes Mädchen, endlich werd’ ich Dich wiedersehen! Ein Schatten flog über sein Gesicht. Aber wie wird es mit dem Vater? Hagemann ist über die romantischen Jahre hinaus. Er wird sich mit Opern nicht abspeisen lassen; er wird heute hier, morgen dort essen wollen. Aschau hat ihm unsere Stadt als ein Schlaraffenland gepriesen. Wo sind die Trüffelberge? Wo schäumt der Sekt? wird er fragen. Hagemann ist gesellig wie ein Truthahn. Er wird „Sonnenbrüder“ finden, und sie werden Brüderschaft trinken und er wird sich und mich bloßstellen, blamieren. Meine Verlobung wird sich nicht länger geheimhalten lassen. Und doch hat Aschau darin recht: sie wird mir bei Hofe schwerlich nützen. Er nagte an der Lippe. Ich wollte, wir wären schon verheirathet, dann wär’ ich auch ein freier Mann und könnte mich rechts oder links wenden, je nachdem!

Er schaute aus dem Wagenfenster und ärgerte sich über die Langsamkeit der Fahrt. Wie anders wird die Rückfahrt sein, wenn ihm Emma gegenübersitzt! Schade nur, daß ihr das Gedränge und Getriebe einer bedeutenden Stadt so wenig etwas Neues ist wie sein eigener Ruhm. Siehst Du, würde er sonst sagen, diese Tausende und Tausende von Spaziergängern und Geschäftigen – allen diesen bin ich bekannt und allen ein Liebling! Unsere Minister, unsere großen Kammerredner kennt man ja auch, aber sie machen den Leuten in einem Jahrzehnt nicht soviel Vergnügen wie ich an einem Abend. Mir blickt keiner finster, mir jeder dankbar nach, denn wie oft hat ihnen mein Gesang Schmerzen und Sorgen eingewiegt oder wenigstens die Langeweile vertrieben. Ich singe, und die Kalten entdecken ihr Herz und die Warmherzigen finden die kalte Welt wieder schön. Und die Frauen, die Frauen! Zum Beispiel Prinzessin Erna! Sie schwärmt für mich … doch nein, das würde ich Emma nicht sagen! Er lächelte, aber alsbald verdüsterte sich wieder seine Stirn. Die schönen Tage auf Solitude sind vorüber; ich werde mich nicht mehr zum Aerger und Neid meiner Kollegen in der Hofgunst sonnen. Sei es! Ich – bin es auch der guten Emma schuldig, daß ich mich frei mache, sei die Fessel von Gold oder ein Seidenband! Dieses Vertuschen und Verschleppen ist grausames Unrecht gegen deine Braust! Sei nicht feige, bekenne deine bürgerliche Liebe, deinen Hang zu bürgerlichem Glück! Eigentlich ist dir im Vorzimmer von Hoheiten und Excellenzen so wenig wohl wie im Kreise bechernder Junggesellen. Eigentlich bist du der geborene Ehemann! Bau’ dir ein warmes Nest, du wirst darum kein schlechterer Sänger! Ja, wenn ich mit den Launen der Prinzessin und ihrer Damen die himmlische Sanftmuth und Ergebenheit Emmas vergleiche , begreife ich mein Schwanken und Bedauern nicht. Die Gunst der Großen hat zudem enge Schranken; sie geht nicht einmal bis zu einem Halsorden für mich. Freilich, wenn man mich fallen läßt, werde ich unangenehme Erfahrungen machen. Ein ungnädiges Wort von oben, und Aschau wird mein Tyrann. Man wird mich kaltstellen, totschweigen – dahin darf es nicht kommen. O, sie sollen mich kennenlernen – mein geliebtes Mädchen, auf Flügeln des Gesanges trag’ ich dich weit übers Meer und wir gründen uns in der Fünften Avenue oder auf dem Washington-Square New-Yorks ein neues Heim!

Nach diesem dichterischen Erguß, in dieser Liebesgluth wurde ihm der Schneckengang des Fuhrwerks unerträglich. Er verzehrte sich in Ungeduld, er fürchtete, die Ankunft des Zuges zu versäumen, er stellte sich die Enttäuschung Emmas vor, die erste Enttäuschung, den ersten Schmerz, den er ihr bereiten würde, wenn er nicht da wäre. Zum ersten Mal zweifelte er an der Uhr des Sultans. Er steckte den Kopf hinaus und rief dem Kutscher, dem Diener, den Gäulen zu, in drei Teufels Namen zuzufahren. So drückte er sich aus, nach all dem Ueberschwang – wir dürfen es nicht verschweigen.

Als er, endlich am Ziel, durch die Wartesäle auf den Bahnsteig stürmte, fuhr der Zug eben in die Halle. Und dann hielt er seine Braut in den Armen, und sie küßten sich beide, unbekümmert um die Welt, die allerdings auf Bahnhöfen ein Auge zudrückt. Da klopfte jemand dem Seligen derb auf die Schulter. „Reihe ’rum!“ sagte Hagemann und that, was die Tochter that, umarmte und küßte den Sänger. Denn da Hagemann seine Emma in ihrer Liebe glücklich und über seinen Zorn unglücklich gesehen, hatte er Leisewitz doch und zwar schon in Wörde verziehen.

Leisewitz gab seiner Braut den Arm, Hagemann nahm dem Diener seine Haudtasche wieder ab, dann überließen sie sich dem Strom ins Freie. Auf der großen Freitreppe machten sie Halt. Der Himmel über dem Bahngebäude und seiner Umgebung war rauchig, aber wie leuchtete er für die Liebenden! Allein Hagemann holte die Glücklichen zur Erde herab; er schob sein Kind sachte beiseite und ließ den Rockknopf des Sängers nicht los, bevor er alle Grüße und Scherze der „Sonnenbrüder“ und „Eismänner“ ausgerichtet hatte. „Und Segeberg würde für sein Leben gern mitgekommen sein, wenn die Zeitläufte nicht so verzweifelt wären; als braver Bürgermeister kann er aber jetzt seinen Posten nicht verlassen. Am herzlichsten von allen jedoch läßt Dich unser Kapellmeister grüßen. Nach Deinem Abschiedsabend kam er wieder täglich in unser Haus, und Emma war wieder eifrig beim Klavierspiel, denn die Frau eines Hofopernsängers muß musikalisch sein, sagt der Kapellmeister.“

Siegfried schmunzelte. Obwohl er nicht zu den Vertrauensseligen gehörte, war er von Roberts Ehrlichkeit bei diesem Wandel überzeugt. Das sieht seiner erhabenen Einfalt und lächerlichen Selbstlosigkeit ähnlich, dachte er; Emma ist Braut, das heißt für ihn: sie ist unter die Sterne versetzt, und „die Sterne, die begehrt man nicht“ – nun kann er wieder in das Haus.

Unterdessen begrüßte Emma den freudeglänzenben Giuseppe. „Mir geht’s, wie es einem armen Hascher und militärpflichtigen Patrioten heute gehen kann,“ antwortete er auf die Frage nach seinem Befinden. „Wenn die Zeitungen nicht bald Ruh’ geben, haben wir den schönsten Krieg. Was wird dann aus dem gnädigen Herrn! Denn ich mag wollen oder nicht, ich muß mich stellen in Wien, sonst könnte die österreichische Armee am Ende nicht ausrucken. Aber, gnädiges Fräulein, mein Komplement! Beim Aussteigen kamen Sie mir um einen Schein blässer vor, aber keine Idee – Sie waren nie so schön wie heute! Aber wir lieben Sie auch erschrecklich; wir haben von nichts anderem als von Ihnen gered’t; wir haben die Tage gezählt!“

Fritz Hagemann blickte auf das Gewirr der Menschen und Wagen gelassen wie sommers auf die Brandung an der Wörder Landspitze. „Gehen wir!“

„Unser Wagen hält dort hinter den Droschken,“ sagte Leisewitz mit einer Handbewegung.

„Wagen? O du meine Güte! Und vollends ein geschlossener! Nein, wir sind nachgerade genug gefahren. Ich will meine Beine schlenkern und dem Blut einen neuen Schwung geben. Ich vertraue Purzel unser Gepäck an. Du führst Emma am Arm und mich nehmt Ihr ins Schlepptau. Unb wo eine Auslage ist, die eines alten Mannes Herz erfreuen kann, drehen wir bei!“

„Dann erlaube mir, Josef Deinen Mantelsack zu geben.“ Die Tasche, die Hagemann nur während der Umarmung aus der Hand gelassen, war ein altes Stück. Sie trug eine Stickerei aus blauen und weißen Glasperlen, einen Vergißmeinnichtkranz um den Wunsch: „Bon voyage!“

Hagemnnn zog hastig die Tasche an sich. „Nein, die Tasche vertrau’ ich niemand. Der Inhalt ist null, aber die Tasche das erste Geschenk meiner Seligen.“ Das war so einfach, so rührend. Leider hatte der Sänger im Leben – nicht in der Kunst – für kleine Züge, für kurze Lichtblitze, die doch fernste Winkel erleuchten, kein Verständniß; er dachte nicht an Emmas Mutter, sondern sah die blauen Glasperlen. „Ich meinte nur – die Straßen, durch die wir gehen müssen, sind sehr belebt.“

„I, meinethalben sei unbesorgt,“ rief Hagemann; der ihn mißverstand, „ich war in Hamburg, Berlin und Paris! Dank unserem erleichterten Verkehr, dank den Rundreisekarten und Vergnügungszügen giebt es keine Kleinstädter mehr. Weiß Purzel unsere Wohnung? Gut, dann gehen wir!“

„Wie Du willst,“ erwiderte Siegfried und warf einen raschen Blick über seine Braut und dann noch einen sinnenden auf ihren Hut.

Sie errieth seine Gedanken sofort und sagte ohne Empfindlichkeit: „Ja, nicht wahr, der Hut gefällt Dir nicht?“

„Rubenshüte sind hier zu Lande außer Schick,“ versetzte Siegfried kleinlaut.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_514.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2023)