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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Gebirge empor – es ist der Palast für Industrie und Freie Künste, gegen dessen riesige Verhältnisse diejenigen unseres Dampfers bis zur Armseligkeit zusammenschrumpfen. Weiter südlich sehen wir, von zahllosen Thürmen und Kuppeln überragt, stattliche Säulenreihen, das klassisch schöne Peristyl mit seinem mächtigen Portal, auf dessen Höhe Christoph Kolumbus in einem von einem Viergespann gezogenen Triumphwagen steht. Befindet sich unser Schiff der Pforte gegenüber, so fliegt der Blick durch Thor und Säulen auf eine weite, von marmornen Wänden umschlossene Lagune, auf ein riesiges, goldüberkleidetes Frauenbild, die Statue der Republik, auf die Kolossal-Thierfiguren vor dem Landwirthschaftspalast, auf eine goldschimmernde Kuppel, auf jenen ungeheuren Festplatz, wo sich vor wenig Wochen die feierliche Eröffnung der Weltausstellung vollzogen hat.

Einen noch großartigeren Rundblick genießt man vom Dach des Industriepalastes aus. Dieser Industriepalast ist überhaupt das Wunder der Kolumbischen Weltausstellung. Er ist das größte Gebäude der Erde; bedeckt er doch bei einer Länge von 514 und bei einer Breite von 240 Metern eine Fläche von rund 123400 Quadratmetern. Ueber seinem kolossalen Innenranm wölbt sich ein ungeheures, von keiner Säule getragenes Glasdach, dessen Spannung diejenige der vielbewunderten und mit dem höchsten Ehrenpreise gekrönten Maschinenhalle der letzten Pariser Weltausstellung noch um ein Beträchtliches übertrifft.

Blick auf das Peristyl.

Es ist schwer, sich einen Begriff von den gewaltigen Verhältnissen dieses Innenraums zu machen. Man nehme tausend Häuser von Durchschnittsgröße – sie alle werden bequem Raum in dem Industriegebäude haben; man nehme einen der größten Plätze Deutschlands, den Augustusplatz zu Leipzig, mitsamt dem daranstoßenden Stadttheater sowie dem Museum – sie reichen nicht hin, um die Riesenhalle zu füllen. Es braucht 8 bis 10 Minuten, um von dem einen Ende des Palastes bis zum andern zu kommen; 30 Minuten sind erforderlich, um ihn ganz zu umschreiten. Und welche Massen Materials verschlang dieser 1500090 Dollar kostende Bau! Das Gewicht des zur Herstellung des Gerippes benöthigten Stahls beträgt weit über 6 Millionen Kilogramm, für das Dach wurden 1 Million Kilogramm Eisen verwendet, der Fußboben allein beanspruchte 3 Millionen Fuß Holzdielen und fünf Eisenbahnwagen voll Nägel. Zum Bedecken des Dachs verbrauchte man über 30000 große Glastafeln und für den Anstrich des Stahlgerippes 50 Tonnen Farbe. Kurz, der Industriepalast mit seinem reichen Inhalt ist thatsächlich eine Welt für sich. In ihm haben sich fast alle gesitteten Nationen des Erdballs zum friedlichen Wettkampf miteinander zusammengefunden: germanische, romanische und slavische Völker, Araber, Türken, Indier, Singhalesen, Siamesen, Malayen, Chinesen, Koreaner und Japaner, Bewohner von Afrika, Polynesien, Süd-, Central- und Nordamerika.

Wenn wir den stählernen Fahrstuhl betreten und uns von ihm zum Dach der Riesenhalle emportragen lassen, dann versinkt die von diesen Nationen aufgebaute Stadt mit ihrem buntfarbigen Getriebe. Die Menschen schrumpfen zu Ameisen, die Pavillons und Kioske zu Hüttchen im Spielschachtelformat zusammen; der Lärm, der uns drunten umwogte, verhallt und tönt nur noch als ein schwaches Summen wie aus unendlicher Tiefe empor – da plötzlich hält der Fahrstuhl, wir steigen einen zum Dach hinanführenden Gang aufwärts, um nunmehr staunenden Auges das 75 Meter unter uns liegende Panorama zu bewundern. Unser erster Blick fliegt gen Osten, wo sich, einem Weltmeer gleichend, der blaue Spiegel des Michigansees bis in unabsehbare Ferne zieht. Wenden wir uns gen Norden, so sehen wir am Horizont die Gebäude Chicagos, ein Chaos, von Rauch und Nebel umhüllt; zu unseren Füßen aber liegt der Stolz der jungen Weltstadt, die Kolumbische Ausstellung mit ihren Palästen, Gartenanlagen und gondeldurchfurchten Lagunen.

Die offiziellen Bauten der „Weißen Stadt“ bewegen sich fast ausschließlich in den edlen Formen des klassischen Stils oder der Renaissance. Eine wahre Perle des ersteren ist der im ionischen Stil aufgeführte Kunstpalast, dessen Kuppel von

einer Kolossalfigur der Viktoria gekrönt ist. Das bereits früher

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 508. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_508.jpg&oldid=- (Version vom 2.8.2022)