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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

ihm gut, aber er wollte ihn nicht zum Schwiegersohn. Alle im Städtchen waren dem Sänger gut, denn er wirkte wie ein Gärmittel auf die schwerblütige Gesellschaft. Da das Wetter beständig blieb, wurden fast an jedem Nachmittag Ausflüge zu Wasser und zu Lande unternommen, Emma war immer dabei, aber keine Minute allein. Zuweilen löste der Hausfreund Segeberg den Vater in der Wache ab. Da dieser ein rüstiger Witwer und reich war, sah Leisewitz anfangs einen Freier in ihm und empfand alle Qualen der Eifersucht, bis ihn endlich die wahrhaft feierliche Hochachtung, die Emma dem Vater der Stadt erwies, beruhigte. Aber was half ihm diese kleine Erleichterung seines Herzens? Wenn die anderen Wörder Damen morgens mit der Pferdebahn zum Seebad fuhren, brachte Hagemann seine Tochter im eigenen Wagen dahin und wartete dann auf dem Platz vor dem „Deutschen Kaiser“, wo auch schon der Sänger beim Kaffee, seinem zweiten Morgenkaffee, saß. Die beiden Männer plauderten, bis Emma wieder erschien, den Hut in der Hand, das wellige Haar, das ihr tief über den Gürtel herabhing, aufgelöst. Sie nickte und grüßte dann herüber, doch Hagemann bezog das auf sich allein, verabschiedete sich von Leisewitz und fuhr mit seinem Töchterlein in die Fabrik, wo die Essen rauchten und ein widrig süßlicher Geruch die Luft verdarb. Emma beklagte sich darüber und fortan fuhr Hagemann mit seiner Tochter nach Wahndorf zu spazieren.

Bei alledem wagte Emma zur Verzweiflung des Sängers nicht die geringste List gegen ihren Wächter. Wenn sie auf den Ausflügen nur ein einziges Mal dem Beispiel der anderen Mädchen gefolgt wäre, die wie Rehe in das Dickicht sprangen! Leisewitz würde sie eingeholt haben – und wieviel läßt sich mit wenig Worten sagen! Doch Emma sprang nicht mit dem Rudel, sondern ging sittig an der Seite des Vaters, „in gleichem Schritt und Tritt“. Siegfried klagte sowohl sie wie sich selbst der Feigheit an; verzweifelnd faßte er dann den Entschluß, morgen abzureisen. Doch da gab ihm ein heimlicher Blick oder ein Erröthen wieder Trost und Hoffnung, und er rief sich zu: Du bist ein Thor, an ihr zu zweifeln!

So genoß er das Glück, zu lieben und geliebt zu werden, ohne Uebermuth. Das Hangen und Bangen vertiefte seine Empfindung, es gab seinem Wesen ungewohnten Ernst und seiner Miene einen schwärmerischen Ausdruck, was alles ihm in den Augen Emmas zu nicht geringem Vortheil gereichte.

Prinzessin Erna verlangte niemals nach dem Sänger, dagegen wurde Kapellmeister Lenz täglich in das Sommerhaus geladen. Leisewitz hörte das ohne Verdruß, Für ihn war das Städtchen Wörde jetzt die Welt und Emma deren Königin.

*  *  *

Das Konzert des Cäcilienvereins sollte um Fünf beginnen. Bald nach Tisch hatte Leisewitz seinen Bedienten Purzel mit einem Blumenstrauß für das Fräulein zu Hagemanns hinübergeschickt und dann am Fenster sehnsüchtig auf die Rückkehr des Boten gewartet. Aber noch bevor dieser wieder aus dem Hause getreten, war drüben Emma an einem offenen Fenster erschienen, den Strauß in der Hand, und als sie den Sänger gewahr geworden, hatte sie freudig genickt und das Gesicht in die Blumen gedrückt; nur einen Augenblick lang, denn alsbald war Herr Fritz Hagemann neben ihr erschienen und hatte auch genickt.

Nun war es fünf Uhr und der große Saal des Strandschlosses dicht gefüllt; nur inmitten zwischen den zwei Sitzreihen war der Gang zu den vorderste Stühlen frei, die von der Prinzessin und ihrem Gefolge eingenommen waren. An den Langseiten standen die Leute Kopf an Kopf. Ein paar Stufen höher als der Boden lag die Bühne für die Vereinsmitglieder, für Sänger und Orchester, ebenso dicht besetzt wie der Zuschauerraum. Emma hatte ihren Platz nahe dem Mittelgang, in der vierten Reihe, zwischen dem Vater und dem unvermeidlichen Bürgermeister.

Siegfried Leisewitz hatte sich nach reiflicher Erwägung nicht auf die Tondichtung seines Freundes Lenz beschränkt. Er trug schon am Schluß der ersten Abtheilung ein paar Lieder Schuberts vor und sang, dem stürmischen Zuruf sich fügend, das Lied „Gute Nacht, du mein herziges Kind!“ als Zugabe. Er sang von den „blauen Aeugelein“ der blauäugigen Wörder Maid zu Ehren, er sang das Lied für Emma allein und zwar mit einer Inbrunst und Klangfülle, daß nicht nur Emma es für das allerschönste hielt. Die biederen Wörder verwandelten sich in feurige Südländer; der Sänger mußte ein dutzend Mal vor die Rampe. Selbst Segeberg erwachte aus fünfundvierzigjähriger Ruhe; er vergaß seine zehnjahrige Amtswürde, stampfte mit dem Fuß, schlug mit der Rechten in die Linke und rief dröhnend ein Bravo um das andere. Wie das Horn von Uri klang seine Stimme.

Auch während der Pause hielt die freudige Erregung an. Niemand blieb steif und ruhig, jedermann fühlte sich leichtblütig und mittheilsam. Nur in der nächsten Nähe der Prinzessin wurde es eine Weile still, als der Hofmarschall seiner Herrin Fräulein Hagemann zuführte. Emma, aus allen Himmeln gerissen, war über die Auszeichnung wenig erfreut und stand roth und verlegen vor Erna, die allerlei Freundliches zu ihr sagte.

„Wie Ihre Augen glänzen!“ meinte Erna zuletzt; „ich freue mich an Ihrer Freude. Bleiben Sie in meiner Nähe, damit ich Sie sehen kann. Bitte, Herr von Aschau, schaffen Sie Platz!“

Der Hofmarschall überließ dem Mädchen seinen eigenen Stuhl und setzte sich zu Fritz Hagemann, der verdrießlich neben zwei leeren Sesseln saß, denn auch Segeberg hatte ihn verlassen.

„Nun, was sagen Sie zu unserem Schwan, zu unserem gemeinsamen Freunde, denn wie ich vom Kapellmeister höre, stecken Sie ja von früh bis spät mit Leisewitz zusammen!“

Hagemann als ehrenfester Kleinstädter glaubte sich deshalb entschuldigen zu müssen – Leisewitz sei eben ein ausgezeichneter Gesellschafter und guter Junge.

„Sie nehmen ihn doch wohl zu leicht, lieber Herr. Er ist vor allem ein großer Künstler.“

„Das auch, das auch, aber Sie wissen, für uns Bürger sind die Künste brotlose Sachen.“

„Na, na, brotlos! Das paßt auf unseren Leisewitz am allerwenigsten. Von seiner amerikanischen Kunstreise hat er bare fünfzigtausend Mark heimgebracht. Jetzt halten wir den kostbaren Vogel vorläufig auf zehn Jahre fest. Dafür sind ihm jährlich fünfundzwanzigtausend Mark zugesichert, als emsiger Mann aber verdient er weit mehr. Denken Sie nur an die Busennadeln, Diamantringe und so weiter, die er sich nebenbei ersingt. Sein Einkommen ist wahrscheinlich geringer als das Ihrige, aber jedenfalls viel größer als das meinige.“

Hagemann machte ein verblüfftes Gesicht. „Was Sie sagen! Allerdings – er hat einen Bedienten, geht fein, flunkert gerne mit der Million in seiner Kehle – aber da dies Künstlervölkchen immer mehr ausgiebt, als es einnimmt, so denke ich –“

„Da sind Sie wieder im Irrthum, mein Bester. Leisewitz ist ein sparsamer Mann, obwohl er es nicht nöthig hätte. Er raucht, trinkt und spielt nicht, macht freilich die Herrenmoden mit, nun ja – doch sein Diener ist zugleich sein Barbier, Friseur und vermuthlich auch Claqueur. Was wollen diese Ausgaben bei seinen Einnahmen sagen! Er legt auf die hohe Kante, lieber Herr. Und das wird ihm doch unter Bürgern nicht verargt werden!“

„Das freut mich, das freut mich, daß er mein Vertrauen verdient. Ich habe ihn nämlich für morgen zu Tisch geladen.“

„So, so, und an mich haben Sie nicht gedacht?“

„Aber, Herr Baron! Wenn ich wüßte, daß Sie mit Leisewitz und einem Teller Suppe vorlieb nehmen –“

„I, Leisewitz ist der beste Tischkamerad, den man sich wünschen kann, und – und – aber was hat das zu bedeuten? Es wird immer dunkler!“

Hagemann sah zum nächsten Fenster hinaus. „Segeberg behält recht,“ sagte er, „es giebt ein Gewitter.“

„Dann würd’ es wohl besser sein, Hoheit ginge schon jetzt?“

„Nein, nein! Entweder bricht es sofort los oder drückt sich noch lange herum. Wir haben übrigens nur noch zwei Nummern bis zum Schluß- und Glanzstack des Abends.“

Während dieser zwei Nummern war es im verdüsterten Saal unruhig, sobald aber Leisewitz zu seinem letzten Lied erschien, trat Totenstille ein. Kapellmeister Lenz setzte sich an den Flügel. Erst sangen die „Eismänner“ den Chor der schadefrohen oder furchtsamen Höflinge, Tassos Ungnade beim Fürsten verkündend. Dann sang eine stimmbegabte Wörderin mit Leisewitz ein Duett – sie, Leonorens Freundin, schmeichelt dem gekränkten Tasso, tröstet ihn, doch er antwortet nur in abgerissenen Lauten, dumpf, verzweiflungsvoll.

Da tritt Leonore von Este selbst ein, und nun strömte Siegfrieds Stimme im Lied sich aus:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_498.jpg&oldid=- (Version vom 2.8.2022)