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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Die Gesellschaft der schönen Livia Casasola wirkte in sprachlicher Beziehung verderblich auf Walter.

„Auch Du bist noch der Alte,“ sagte Robert und holte seinen Hut vom Thürnagel. –

Als der Kapellmeister vor dem Strandschloß abstieg, rief ihm Walter nach: „Ohne Verbindlichkeit, aber hoffentlich auf Wiedersehen!“

„Um Sechs!“

Es waren außer Lenz viele Fahrgäste ausgestiegen, sangliebendes Männervolk; der Wagen wurde beinahe leer. Walter streckte die Beine von sich. „Herr Leisewitz,“ sagte er bei sich, „wir werden uns ohne Sie behelfen!“

Unterdessen war in der Erkerstube der Strandwirthschaft die Bowle gebraut worden. Das Wort: „Sänger sind immer durstig“, paßte nicht auf Leisewitz. Er saß nicht ungern unter fröhlichen Zechern, aber zechte nicht selbst. Nicht nur aus Furcht für die Million in seiner Kehle, sondern auch aus „Selbstachtung“. So konnte es nicht fehlen, daß ihn auch diese Eigenschaft für Emma, die zwischen ihrem Vater und Segeberg saß, unter den kantigen Männern, die gewaltig tranken, zu einer Erscheinung aus einer schöneren Welt machte.

Leisewitz hatte ein hübsches Stück Welt gesehen und wußte gut davon zu erzählen. Vielleicht war nicht alles wahr, doch er erzählte so, daß man ihm glaubte, mit dem schönsten Aufgebot seiner lebhaften Phantasie. Und da seine Zuhörer einfache biedere Leute waren, wurden sie von der Pracht und Verschwendung in seinen Schilderungen bezaubert; sie staunten über das Sonntagskind, das solches gesehen und erlebt hatte, und waren so versunken ins Zuhören, daß sie von dem Lärm und der Unruhe draußen nichts vernahmen. Die Erkerstube lag nach dem Walde zu, stieß aber an den großen Saal, in dem der Cäcilienverein seine Konzerte und der Schützenbund seine Tanzkränzchen veranstaltete. Aus dem Saal, der Erkerstube gegenüber, führte eine Thür unmittelbar ins Freie, auf die Terrasse mit dem Ausblick auf Strand und Meer. In diesem Saale hatten sich inzwischen die „Eismänner“ versammelt. So hieß ein Zweig des Cäcilienvereins, dessen fast durchweg jugendliche Mitglieder ebenso den vierstimmigen Männergesang pflegten wie im Winter den Schlittschuhsport.

Jetzt wurden plötzlich die beiden Flügel der Thür, die zur Erkerstube führte, von außen geöffnet, und unsere Gesellschaft sah vor ihrer Schwelle dichtgeschart und vollzählig den Bund der Jugend, die gesangeskundigen „Eismänner“, mit Robert Lenz an der Spitze. Dieser winkte mit der Rechten, worauf aus vierzig kräftigen Kehlen der Wahlspruch der „Eismänner“ erklang:

„Unser Lied, es sei
Wie der Sänger – stolz, wahr, frei!“

Dann trat Lenz auf die Schwelle und richtete das Wort an Leisewitz, der – ein umwölkter Zeus – ihm gegenüber thronte. Er sprach ohne Schüchternheit und ohne Uebertreibung. „Ich bitte, diese Störung zu verzeihen. Wir hatten uns zu einer Probe für das nächste Wohlthätigkeitskonzert des Cäcilienvereins versammelt, als wir erfuhren, daß ein großer Künstler, ein Sänger von Gottes Gnaden im Hause anwesend sei. Herr Siegfried Leisewitz! So klein unsere Stadt ist, so sind doch der aufrichtigen Musikfreunde viele darin und jedem ist Ihr Name theuer. Ihr Ruhm ist heimisch bei uns. Von unserer Probe kann heute nicht mehr die Rede sein. Doch da der Grund unseres Verstummens kein trauriges, sondern ein freudiges Ereigniß, ein Ereigniß im wahren Sinne des Wortes ist, stehlen wir uns nicht davon, sondern bleiben und feiern nach germanischem Brauch den Tag und den Helden des Tages. Sie aber und Ihren liebenswürdigen Kreis bitten wir, sich zu uns zu gesellen. Mißverstehen Sie uns nicht! Das soll nicht heißen: nun wirst Du uns auch singen. Nein, wir wollen Sie nur unter uns haben wie Rekruten einen berühmten Feldherrn. Und wenn Ihnen der eine und andere von uns derb die Hand drückt, so sagen Sie sich, ich bin nicht bei Hofe, sondern in Wörde. Mich hat zwar die See nicht wie meine Freunde hier schon als Kind in Schlaf gewiegt, aber ich kenne die See und das Volk, das an ihr großwächst – die See hat ihre Tücken, aber im Volk ist kein Falsch. Und so heißen meine Freunde, meine Schüler hier den berühmten Künstler aus aufrichtigem Herzen willkommen. Der große Sänger lebe hoch!“

Leisewitz sah die Augen Emmas seinetwillen süß aufleuchten vor Freude und Stolz, und berauscht von diesem Erfolge sprang er auf. „Ich danke Ihnen, Freund,“ rief er pathetisch, „und Ihren Freunden. Ueber unser Bleiben habe aber nicht ich, sondern haben Fritz Hagemann und Kompagnie zu entscheiden. Wenn es ihnen recht ist, bleibe ich gerne noch ein Stündchen in Ihrer Mitte. Aber singen werde ich heute nicht – hem, hem – denn ich möchte meine Probe vor Ihnen mit Ehren bestehen, fühle mich aber – hem, hem – heute dazu außer stande. Freund Lenz sprach von einem Wohlthätigkeitskonzert Ihres Vereins. Ich bitte, mitwirken zu dürfen. Und zwar bitte ich darum nicht nur aus Dankbarkeit für Ihre Begrüßung, sondern auch, um Ihnen einen gemeinsamen Freund, den Sie sicherlich hochschätzen und dennoch kaum in seinem ganzen Werthe kennen, ins Herz zu singen. – Lieber Maëstro, erlaube mir, Dein Progamm um eine Nummer zu vermehren – um Tassos Lied aus der Oper ‚Tasso‘ von Robert Lenz!“

Nachdem das Hurrarufen und Beifallklatschen verhallt war, fand die Uebersiedlung statt, denn Hagemann und Kompagnie gaben mit Begeisterung das Stündchen zu . . . Man hat gesagt, daß es unmöglich sei, eine Schlacht und einen Ball zu beschreiben. Ebenso schwierig dürfte es sein, das Gelage junger Stürmer zu schildern, auch wenn sie sich mit Alten zusammenthun, denn die bemoosten Häupter sind bald um kein Haar besser als die andern. Jeder ist gesprächig, doch kaum einer wird sich am folgenden Tage erinnern, was er gestern gesprochen, gepriesen, getadelt, verleugnet, geschworen hat; alle, auch die Nüchternen, sind nichts als eben seelenvergnügt. Aber warum?

Wenigstens zwei wußten an jenem Abend, warum, und weil sie es wußten, waren sie nur still vergnügt, verschämt selig: Emma, die wieder zwischen dem Bürgermeister und ihrem Vater vertaut wurde, und Siegfried, der ihr gegenüber saß. Die Wandlung des Sängers kam Herrn Hagemann nachgerade sonderbar vor. Der eine und andere Blick zu Emma hinüber, der beredt war wie der schönste Brief, wurde auch von ihm aufgefangen und gedeutet. Alle Wetter der junge Mann bildet sich am Ende ein – doch just, wenn Hagemann grimmig werden wollte, kam wieder ein „Eismann“, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Hagemann, famoses Haus, das haben wir Ihnen zu verdanken – auf Ihr Wohl!“ Hagemann nahm Dank und Huldigung mit Würde in Empfang und that schmunzelnd Bescheid. Warum sich heute den Abend verderben, dachte er. Aber morgen werde ich ihm den Standpunkt klar machen!

Doktor Walter traf erst um Neun im Strandschloß ein, gerade als sich die Familie Hagemann, Leisewitz und der Bürgermeister von den „Eismännern“ verabschiedeten, um als gesetzte Leute den letzten Wagen der Pferdebahn nach dem Städtchen zu benutzen.

Leisewitz hatte ein Umschlagetuch malerisch um Schultern und Hüften gezogen. Das Tuch hatte ihm der Kapellmeister aufgenöthigt. „Sie haben recht,“ hatte Leisewitz erwidert, „man kann hier abends nicht vorsichtig genug sein. Mein Diener wird Ihnen – ja so, will sagen, Dir das Tuch morgen früh zurückbringen.“ Er warf einen Blick auf Doktor Walter, der nahebei in einer Fensternische stand. „Wenn ich Dich vorhin recht verstanden habe, bist Du mit dem neuen Hofmedikus unserer Prinzessin bekannt?“

„Wir sind Jugendfreunde.“

„So, so. Na, adieu! Es bleibt bei der Verabredung, ich singe Tassos Lied, und wie werd’ ich singen!“

Die vierzig „Eismänner“ stimmten den Scheidenden zu Ehren abermals ihren Wahlspruch an; doch klang derselbe nicht mehr so stolz und siegessicher wie das erste Mal . . .


5.0 Tassos Lied.

Zwischen jenem Abend im Strandschloß und dem Tag, an welchem das Konzert stattfand, waren zwei Wochen vergangen, für Leisewitz in Qual und Seligkeit. Schon bei der Heimkehr hatte Hagemann jedes Zwiegespräch vereitelt, und seitdem war es dem Sänger nie gelungen, Emma allein zu treffen. Keine Mutter hätte diese besser als Hagemann bewacht; ja eine Frau hätte sich am Ende durch die schönen Augen Siegfrieds, durch seine Liebenswürdigkeit, seinen Gesang und sein Klavierspiel, nicht weniger durch die sanfte Ergebenheit Emmas rühren lassen – Hagemann blieb unbestechlich. Er vermied den Sänger nicht, im Gegentheil,

wenn dieser nicht zu ihm kam, suchte er ihn selbst auf. Er war

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 496. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_496.jpg&oldid=- (Version vom 2.8.2022)