Seite:Die Gartenlaube (1893) 476.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

dabei auch auf eine zweckmäßige Behandlung des künstlichen Auges an, weshalb wir über diese einige Winke geben wollen.

Das künstliche Auge soll nur am Tage getragen werden. Es wird daher früh morgens eingesetzt und abends vor dem Schlafengehen wieder herausgenommen Beim Einsetzen beobachte man folgende Regeln. Man tauche das Auge in reines Wasser – einölen ober einfetten ist schädlich – und fasse es mit dem Daumen und Zeigefinger der einen Hand je in der Mitte des oberen und unteren Randes. Während nun die andere Hand von oben her das Oberlid an seinem Rand und den Wimpern in die Höhe zieht, schiebt man die mit ihrer Höhlung nach der Wange gekehrte Schale mit ihrem breiten Schläfentheil über das Unterlid weg nach oben bis zur Hälfte in die Augenhöhle ein. Dann läßt die andere Hand das Oberlid los, faßt das Unterlid und zieht es nach unten. Dabei wird das Auge so gedreht, daß es horizontal liegt, und dann das Unterlid losgelassen, welches sich nun über die Prothese legt und diese mit dem Oberlid in der richtigen Lage erhält. Um das Auge herauszunehmen, zieht man das Unterlid wieder nach unten, geht mit einem kleinen Häkchen oder dem Kopfe einer größeren Stecknadel hinter den unteren Rand und macht einige hebelnde Bewegungen mit dem Instrument, wodurch das Auge unter dem Oberlid hervorgleitet. Um ein Zerbrechen des zarten Glaskörpers zu verhüten, kann man sich in der ersten Zeit bei dem Einsetzen und Herausnehmen über ein Bett oder eine weiche Unterlage beugen, bis man die nöthige Fertigkeit erlangt hat, das Auge mit der Hand aufzufangen. Sollte die Augenhöhle tagsüber viel Schleim absondern, so muß man auch mittags das Auge herausnehmen und Augenhöhle und Auge mit lauem Wasser reinigen. Ueber Nacht wird die gereinigte Prothese trocken, nicht etwa in Wasser, und vor Staub geschützt, am besten in dem vom Fabrikanten gelieferten Kästchen aufbewahrt. Alle vierzehn Tage muß das Auge gründlich mittels lauen Wassers, Seife und einer weichen Bürste gesäubert werden. Behandelt man das Auge auf diese Weise, so kann man es gut ein Jahr tragen.

Ehe man sich ein künstliches Auge anschafft, frage man einen Augenarzt, ob dem Tragen eines solchen keine Bedenken entgegenstehen; es giebt Fälle, wo es schädliche Folgen haben kann. Wenn möglich, stelle man sich dem Augenfabrikanten selbst vor, daß sich dieser bei seiner Arbeit nach den persönlichen Verhältnissen richten kann. Gut thut man auch, sich mindestens ein Reserveauge anfertigen zu lassen, damit man bei Verlust des einen nicht in Verlegenheit komme.

Zum Schluß wollen wir nun noch einiges darüber sagen, welchen Zweck es hat, ein künstliches Auge zu tragen. In einer großen Anzahl van Fällen geschieht es wohl lediglich aus Rücksichten der Schönheit. Es soll eben der das Gesicht entstellende Fehler ausgeglichen werden. Wie weit man dabei in der Nachahmung der natürliche Verhältnisse gehen kann, beweist jener Opernsänger, der bei Tag ein Auge mit kleiner Pupille und abends ein solches mit größerer trug, weil sich bekanntlich bei herabgesetzter Beleuchtung die Pupille erweitert.

Bei Kindern kommt der Gesichtspunkt des äußeren Eindrucks nicht allein in Betracht; durch das Tragen einer Prothese wird auch ein unsymmetrisches Wachsthum der beiden Gesichtshälften vermieden, während sonst diejenige, welcher der Augapfel fehlt, im Wachsthum zurückbleiben würde. Hauptsächlich aus diesem Grunde ist daher der Gebrauch eines künstliche Auges bei Kindern anzurathen, und wenn es auch nur eine Schale ohne Zeichnung wäre. Daß es durch Stoß oder Schlag häufig zertrümmert werden könnte, ist nicht leicht zu befürchten, da die nach außen gewölbte Oberfläche der halbkugeligen Schale schon einen äußerst harten Schlag erhalten muß, ehe sie zerbricht, was in der That auch nur sehr selten vorkommt. Aber selbst wenn dies geschehen sollte, so können ja doch die Splitter keine edleren Theile verletzen.

Stellen wir uns ferner vor, ein wie schmerzlich unerquickliches Bild ein Einäugiger bietet! Kein Wunder, daß es ihm schwerer fällt als anderen, sein Fortkommen zu finden, wenn er auch wirklich mit seinem einen Auge noch gerade soviel leisten kann wie vorher mit zweien! Das künstliche Auge verdeckt nicht nur einen Schönheitsfehler, sondern es erfüllt auch einen gewissen Heilzweck und gestaltet die soziale Lage seines Trägers günstiger. Daher bedarf seiner noch mehr als der Reiche derjenige, welcher auf seiner Hände Arbeit angewiesen ist. Für ihn kommt allerdings auch der Kostenpunkt in Betracht, der indessen den Vortheilen gegenüber, welche das künstliche Auge bietet, nicht allzu hoch anzuschlagen ist. Man lasse sich aber ja nicht etwa aus Sparsamkeit dazu verleiten, ein Auge zu lange zu tragen. Denn nach ungefähr Jahresfrist wird, wie schon oben erwähnt, auch bei dem beste Fabrikat die Oberfläche rauh und die Schleimhaut ist einer fortwährenden Reizung ausgesetzt, welche zu langwierigen Entzündungen und schließlich zu Schrumpfung führt, so daß das fernere Tragen einer Prothese endlich ganz unmöglich werden kann. Also lieber etwas mehr Geld ausgeben als sich dieser Gefahr aussetzen! Wünschenswerth wäre es deshalb auch, wenn die Krankenkassen für ihre Mitglieder nicht nur wie bisher die erstmalige Anschaffung eines künstlichen Auges, sondern auch dessen jährliche Erneuerung übernehmen würden.




Zürnende Brunnengeister.

Wer kennt nicht die zahlreichen Sagen von überfließenden Brunnen, welche Dörfer und Felder überschwemmt und Landseen gebildet haben sollen? Solche Legenden sind weit verbreitet, „allgemein menschlich“ – könnte man sagen; denn wir begegnen ihnen in verschiedenen Welttheilen, und selbst die schwarzen Eingeborenen an den Ufern des Tanganjika in Deutsch-Ostafrika erzählen, daß der gewaltige See durch das Ueberfließen eines Brunnens entstanden sei, als einmal die Gebote des Brunnengeistes von den Menschen nicht befolgt wurden. Diesen Volksüberlieferungen liegen gewiß wahre Ereignisse zu Grunde, woran gerade in unseren Tagen niemand zweifeln wird, nachdem ein überfließender Bohrbrunnen die Stadt Schneidemühl mit den schlimmsten Gefahren bedroht hat.

Man hatte dort Ende vorigen Jahres einen alten Brunnen verbessern wollen und tiefer gebohrt. Dabei erschloß man eine Quelle, deren Wasser jedoch mit Sand vermengt war; so bohrte man immer tiefer. Das Rohr verstopfte sich, aber neben demselben bahnte sich das Wasser den Weg zur Oberfläche, begann immer mächtiger hervorzuquellen und dabei große Massen von Sand und Erde fortzuspülen. Der Brunnen höhlte das Erdreich aus, auf welchem ein Theil der Stadt steht, und nun suchte man, die Gefahr ahnend, das Bohrloch zu verstopfen, aber man konnte die heraufbeschworenen Wassergeister nicht sogleich bändigen. Anfang Juni fing der Boden an, sich zu senken. Zwei der schönsten Straßen der Stadt, die Große und die Kleine Kirchenstraße, an deren Vereinigungspunkt der Brunnen steht, wurden aufs ernstlichste gefährdet, und das Verhängniß schritt unaufhaltsam vor. Wie unsere Leser aus den Berichten der Tagespresse erfahren haben, mußten bis Ende Juni über 80 Familien ihre Wohnungen räumen; die Häuser an der bedrohten Stelle bekamen Risse und Sprünge und schließlich brach ein dreistöckiges ganz neues Wohngebäude in der Großen Kirchenstraße zusammen, während 23 andere Häuser halb zerstört dastanden, bereit, jeden Augenblick einzustürzen[1]

Die Bohrbrunnen, die auch artesische Brunnen genannt werden, sind seit uralter Zeit bekannt, und man hat von ihnen immer nur Gutes gehört. Schon die alten Aegypter verstanden auf diese Weise die Wasser der Tiefe an die Erdoberfläche zu fördern, und man entdeckte während der letzten Jahrzehnte in den Oasen von Theben und Dachel eine große Zahl derartiger verschütteter Brunnen, von denen manche 300 bis 400 m tief waren. Als man in der Neuzeit einen dieser Brunnen reinigte, da bot er eine eigenthümliche Erscheinung: mit dem Wasser kamen aus einer Tiefe von 107 m Fische empor. Heute bohren die Franzosen im Süden Algeriens artesische Brunnen und verwandeln mit dem gewonnenen Wasser weite Strecken der Wüste in grünende Oasen. In China sind artesische Brunnen massenhaft vorhanden und oft bis 900 m tief. Mehrere Geschlechter mußten bei den geringfügigen Mitteln der chinesische Technik arbeiten, bis eine Wasserquelle in solcher Tiefe erschlossen wurde.

Die Kunst, Brunnen zu bohren, nahm in Europa erst zu Anfang dieses Jahrhunderts einen besondere Aufschwung, und gegenwärtig spenden in Europa und Nordamerika zahlreiche artesische Brunnen nicht nur reines kühles, sondern auch warmes Wasser. Auf einem Platze in Paris befindet sich z. B. ein Bohrbrunnen, der 719,2 m tief ist und ein Wasser von 34,5°C. Wärme liefert. In Ungarn giebt es mehrere Brunnen, die Wasser von einer Temperatur bis zu +51°C. führen. Der eine dieser Brunnen, auf der Margaretheninsel zu Budapest, reicht in eine Tiefe von 970 m hinab. Tiefer noch ist ein artesischer Brunnen, der vor 25 Jahre zu St. Louis in den Vereinigten Staaten gebohrt wurde; er steigt 1200 m in den Schoß der Erde hinunter, endigt aber im felsigen Granitlager und giebt kein Wasser. Anderwärts hat man auf diesem Wege salzreiche Sole aus der Tiefe der Erde zu gewinnen gewußt, kurz, vielfach ist der Segen, den die Brunnengeister der Tiefe der Menschheit spenden. Es ist eine äußerst seltene Ausnahme, daß sie, einmal heraufbeschworen, die Werke der Menschenhand zu zerstören trachten.

Wenn nun die Völker in ihren alten Ueberlieferungen trotzdem von zürnenden Brunnengeistern berichten, so hängt dies mit Umwälzungen

  1. Soeben geht uns ein „Hilferuf“ aus Schneidemühl zu. Er beziffert den entstandenen Schaden auf über eine Million Mark und bittet alle Menschenfreunde im weiten deutschen Vaterlande dringend um Unterstützung. Beiträge nimmt die Stadthauptkasse zu Schneidemühl entgegen. Die Red.     
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_476.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)