Seite:Die Gartenlaube (1893) 474.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

kann. Die andere Art, die „Hypoblepharie“ waren Schalen ähnlich einer halben Nußschale, aus Gold, Silber oder Kupfer, theils mit theils ohne Schmelzarbeit, und wurden in die Augenhöhle unter die Lider eingelegt. Auf ihrer gewölbten Seite war die bunte Iris (Regenbogenhaut), die schwarze Pupille und die weiße Sclera (Lederhaut) aufgemalt Sie waren die Vorläufer unserer jetzt gebräuchliche künstlichen Augen; allerdings mußten sie noch manche Wandlung durchmachen, bis sie eine solche Vollkommenheit erreichten, wie man sie heute von ihnen verlangt. Einmal waren sie nicht nur recht theuer, sondern auch ihrer Schwere wegen sehr lästig.


Figur 1.   Figur 2.

Figur 3.
a. Sclera. b. Hornhaut. c. Vordere Kammer. d. Pupille. e. Iris.


Beide Uebelstände suchte man dadurch zu beseitige, daß man die Augen aus Porzellan und später aus Glas herstellte. Die Anfertigung und Zeichnung der letzteren war eine verhältnismäßig recht einfache, indem man auf eine große weiße Perle einen blaue oder braunen Kreis und in dessen Mitte einen schwarzen Punkt malte, die untere Hälfte der Perle wegschmolz und so eine dünne Schale erhielt - das nunmehr fertige Auge.

Bereits im Anfang des 17. Jahrhunderts waren diese Augen ziemlich allgemein bekannt. Mit der Zeit wurde sie mehr und mehr vervollkommnet, besonders bemühte man sich, ihnen ein natürlicheres Aussehen zu gebe. Wie weit man es schon damals darin gebracht hat, läßt sich aus jener ergötzlichen Geschichte entnehme, welche uns Manchard in seiner 1749 zu Tübingen erschienenen Inaugural-Disputation „Oculus artificialis Ekblepharos kai Hypoblepharos“ mittheilt. Manchard hatte nämlich einer Bäuerin ein Glasauge eingesetzt welches wegen seiner großen Natürlichkeit die Bewunderung der Zuschauer erregte und laut von ihnen gerühmt wurde. Hierdurch wurde nun die gute Frau zu dem Glauben verleitet, daß sie mit diesem Auge auch sehen könne, und schloß, um sich davon zu überzeugen das andere, worauf sie zu ihrem größten Leidwesen bemerkte, daß trotz aller Natürlichkeit eben doch das Wichtigste, die Sehkraft, fehlte.

Obschon nun diese Glasaugen mancherlei Vorzüge aufzuweisen hatten, so haftete ihnen doch noch der Hauptfehler an, daß sie infolge ihrer Sprödigkeit sehr leicht zerbrachen. Aber auch dieser wurde beseitigt, als man im vorigen Jahrhundert anstatt des gewöhnlichen Glases Schmelzwerk, Emaille, zu verwenden anfing, eine besonders vorbereitete Glasmasse, welche durch Zusatz hauptsächlich von Arsen und Metalloxyden größere Geschmeidigkeit und Elasticität sowie verschiedene Färbung erhält. Diese Masse ist noch heute theilweise, z. B. bei den Franzosen, in Gebrauch. Die Franzosen waren es überhaupt bis in die neueste Zeit fast ausschließlich, welche die Kunst des Augenblasens ausübten und es darin zu so großer Fertigkeit brachten, daß ihre Erzeugnisse von keinen anderen übertroffen wurden.


Figur 4.


Zu den besten und bekanntesten Augenkünstlern seiner Zeit gehörte der geniale Chr. Fr. Hazard, der Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts in Paris lebte und seine Kunst zu großem Ansehen brachte. Ferner ist zu nennen sein Neffe und Schüler Hazard-Mirault, der uns eine größere Abhandlung über künstliche Augen hinterlassen hat, dann Desjardins, der Vater, und Boissoneau, Vater und Sohn. „Boissoneau fils“ dürfte wohl jetzt noch das bedeutendste Geschäft für künstliche Augen in Paris sein.

In Deutschland war zu Anfang dieses Jahrhunderts die Kunst des Augenblasens noch nicht eingeführt; man kannte und benutzte eben auch bei uns nur französisches Fabrikat. Da kam Mitte der vierziger Jahre ein gewisser Ludwig Müller-Uri aus Lauscha in Thüringen, wo damals schon eine hochentwickelte Glasindustrie blühte, nach Paris. Während seines dortigen Aufenthaltes hatte er Gelegenheit, künstliche Augen von Desjardins dem Aelteren zu sehen und sich davon zu überzeuge, daß ihre Anfertigung ein gewinnbringendes Geschäft sei. Auf alle mögliche Art und Weise suchte er das Verfahren bei der Herstellung kennenzulernen, aber vergebens, denn der schlaue Franzose bewahrte sein Geheimniß aufs sorgfältigste. Trotzdem beschäftigte sich Müller-Uri, in seine Heimath zurückgekehrt, eifrig mit der Kunst des Augenblasens und brachte auch nach einiger Zeit Augen zustande, die sich, was Natürlichkeit und Leichtigkeit betraf, mit den französischen messen konnten. Nur war das von ihm verwendete Glas sehr spröde und wenig dauerhaft; der in ihm enthaltene kieselsaure Kalk löste sich in der Thränenflüssigkeit auf, wodurch nicht nur die Oberfläche des Glases rauh, sondern auch die Schleimhaut der Augenhöhle angeätzt wurde.

Auch Müller-Uri suchte gleich seinen französischen Vorbildern das Geheimniß seiner Kunst ängstlich zu hüten und er hatte, um bei seiner Arbeit ja ganz unbeobachtet zu sein, seine Werkstätte auf dem Boden in einer Dachkammer ausgeschlagen. Allein das hinderte seinen Neffen F. A. Müller - derselbe legte später Zur Unterscheidung von seinem Onkel den zweiten Namen „Uri“ ab - nicht, genug von ihm zu erfahren um Ende der fünfziger Jahre selbständig künstliche Augen anfertigen zu können. Ja er erhielt bereits im Jahre 1884 zusammen mit seinem Onkel auf der Ausstellung in Wien einen Preis. Er war es denn auch, der in der Folgezeit durch verschiedene Verbesserungen der Technik und des Materials die deutschen Erzeugnisse zu immer größerer Vollendung führte. So erfand er ein neues Verfahren, die Iris herzustellen. Die Franzosen trugen diese nämlich mit Schmelzfarben auf einen Glasstempel auf brannten sie in diesen ein und lötheten sie dann aus die die Sclera darstellende Kugel auf. Müller dagegen schmolz und drehte verschiedenfarbige Gläser zu dünnen Stäbchen und zeichnete. mit diesen die Iris unmittelbar auf die Kugel. Was aber seinen Augen am meisten zugute kam, das war die Erfindung einer neuen Glassorte, die nach ihrem Hauptbestandtheil „Kryolithglas“ genannt wird, Diese Glasart hat einmal den Vortheil daß sie nicht wie die früher benutzte durch die Thränenflüssigkeit angegriffen wird, sondern sehr widerstandsfähig ist, noch mehr als das französische Glas, und das sie zweitens doch alle Vorzüge der Emaille besitzt. Sie läßt sich leicht bearbeiten, wird nie rauh und behält ihren Glanz. Aus ihr gefertigte Augen können gut ein Jahr getragen werden; erst nach dieser Zeit wird die aus Kristallglas bestehende Hornhaut, und nur diese, rauh, während alle ausländischen, aus einer bleihaltige Glasmasse hergestellten Augen bedeutend früher und auf ihrer ganzen Oberfläche rauh und damit unbrauchbar werden Eine Eigenthümlichkeit des Kryolithglases mag hier noch erwähnt werden. Es verliert nämlich in der Stichflamme seine milchglasartige Färbung vollständig und wird ganz durchsichtig, nach Erkalte und Wiedererwärmen auf eine bestimmten Hitzegrad aber nimmt es jene wieder an. Endlich gelang es Müller noch, an seinen Augen die sogenannte „vordere Kammer“ anzubringen - am natürlichen Auge versteht man darunter den mit klarer Flüssigkeit gefüllte Raum zwischen Horn- und Regenbogenhaut - wodurch sie bedeutend an Naturtreue gewannen, ohne daß sie dadurch an Durchmesser zu dick oder an Gewicht zu schwer geworden wären, Fehler, welche andere Augen zeigten, denen man eine vordere Kammer zu geben versucht hatte. Die beistehenden Zeichnungen dürften dies mit genügender Klarheit zeigen. Fig. 1 stellt ein französisches Auge dar ohne Vorderkammer, wobei Hornhaut und Regenbogenhaut fast in demselben Niveau liegen, Fig. 2 ein deutsches Auge mit normaler vorderer Kammer, ebenso Fig. 3 dasselbe in wagrechtem Durchschnitte, Fig. 4 ein schweizer Auge mit anormaler vorderer Kammer, die den Lidschlag nahezu unmöglich macht. Eine vordere Kammer läst sich allerdings nur dann anbringen, wenn nicht ein in der Augenhöhle zurückgebliebner größerer Augenstumpf das Einsetzen einer sehr dünnen Schale erfordert.

Durch alle diese Verbesserungen waren die Müllerschen Augen den französischen nicht nur in jeder Beziehung ebenbürtig geworden, sondern übertrafen sie in verschiedener Hinsicht noch bedeutend. Trotzdem und obwohl namhafte Augenärzte warm dafür eintraten, hielt es doch schwer, dem deutschen Fabrikate die gebührende Anerkennung zu verschaffen, bis der Krieg 1893 bis 1871 auch hierin Wandel schaffte, Er brachte für uns die Notwendigkeit mit sich einheimische Fabrikate Zu kaufen, und dabei kam man endlich zur Einsicht das die deutsche Arbeit weit besser als die französische und noch dazu billiger war. Infolgedessen nahm das Müllersche Geschäft einen großen Aufschwung, und Müller sah sich veranlaßt, seinen Wohnort von dem etwas weltverlorenen

Lauscha nach der Weltkurstadt Wiesbaden zu verlegen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_474.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2021)