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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Der Cid in seiner wahren Gestalt.

Von Karl Braun-Wiesbaden.

Es ist ein Glück für die Helden der Sage, wenn sie aus der Geschichte gänzlich verschwinden; und die Wahrheit, daß im Leben untergehen muß, was in der Dichtung fortblühen soll, bestätigt sich immer aufs neue.

Hätten wir authentische gleichzeitige Aufzeichnungen über die homerischen Helden, dann würden wir sie wohl nicht sehr hoch über unsere heutigen Rothhäute stellen. Ein gelehrter Ungar, Julius Schwarcz (Mitglied der ungarischen Akademie der Wissenschaften), hat in einem umfangreichen und quellenmäßigen Buche über die „Demokratie von Athen“ nachzuweisen versucht, daß es mit den Griechen zur Zeit der höchsten Blüthe der althellenischen Herrschaft nicht viel besser bestellt war. Wenn wir gleichzeitige Urkunden und Aufzeichnungen über Roland und die anderen großen Helden und über die fahrenden Frauen zur Zeit Karls des Großen besäßen, würden wir denselben gewiß weniger Bewunderung und Sympathie widmen, als wenn wir des großen Meisters Ludovico Ariosto unsterbliche Gesänge vom „Rasenden Roland“ lesen. Selbst jener fabelhafte „König von Flandern und Brabant, der zuerst das Bierbrauen erfand“, welchen wir „Gambrinus“ nennen, während er in Wirklichkeit Dux Jan primus hieß, kann bei näherer Bekanntschaft nicht gewinnen, ist vielmehr in Gefahr, die ihm aus Hopfen und Gerste gewundene Krone zu verlieren.

Aehnlich geht es mit dem berühmten spanischen Helden Ruy Dias (d. i. Rodrigo, Sohn des Diego), in allen Welttheilen bekannt unter dem Namen Cid Campeador (d. i. der Vorkämpfer) als höchste Blüthe der allerchristlichsten kastilianischen Ritterschaft, als „el mas famoso Castellano“, als ein bewundernswürdiger Ausbund großmüthiger, opferfreudiger, uneigennütziger und unbeschränkter feudaler Hingebung und Treue, als „der Mann, der kein größeres Glück, keine höhere Seligkeit kennt als die, seinem König und Herrn zu gefallen“.

In diesem Sinne haben portugiesische, spanische, französische und deutsche Dichter ihn um die Wette besungen, unter den Deutschen kein Geringerer als Herder.

Nun aber kommt die unbarmherzige geschichtliche Forschung und liefert uns den Beweis, daß dieses Muster der allerchristlichsten Treue, das immer „seinen König und Herrn“ im Mund führt, ein gemeiner und treuloser Rebell war, geleitet von den schmutzigsten Leidenschaften, namentlich von der Habsucht, und daß er, um diese zu befriedigen, sich an den Höchstbietenden verkaufte, mochte er Gegner oder Freund seines Königs sein – Christ oder Mohammedaner. Ein gelehrter Holländer, Dozy, hat in der Bibliothek zu Gotha ein arabisches Manuskript entdeckt, welches uns authentische Auskunft über die Großthaten des Cid giebt. Der Verfasser ist ein edler Maure Namens Ibn Bassan, ein Zeitgenosse und Opfer des Cid. Er hatte noch das Rohr in der Hand, mit welchem er die Ereignisse seiner Zeit niederschrieb, als ihn Cid greifen und hinrichten ließ. Der holländische Gelehrte hat die Ergebnisse seiner Untersuchungen niedergelegt in einem Buche, betitelt „Forschungen über die Geschichte der spanischen Litteratur während des Mittelalters“.

Danach ist folgendes die glorreiche Geschichte des großen Cid Campeador:

König Ferdinand I., welcher um die Mitte des elften Jahrhunderts durch seine Heirath beinahe das ganze damals christliche Spanien mit Einschluß von Portugal unter sich vereinigt hatte, theilte es wieder unter seine Kinder. Die Söhne erhielten bei dieser staatsfeindlichen und unklugen Erbtheilung jeder ein Königreich: Sancho erhielt Kastilien, Alfons erhielt Leon und Asturien und Garcia Galizien und Portugal. Die Töchter erhielten jede eine Stadt: Donna Urraca erhielt Zamora und Donna Elvira Toro. So wurde das mühsam Zusammengebrachte wieder zerrissen. Die getrennten Glieder strebten nach Wiedervereinigung und es entbrannte Streit und Krieg unter den Kindern Ferdinands I. Sancho strebte, seinem Bruder Leon und Asturien wieder zu entreißen.

Cid schlug sich auf die Seite des Sancho. Als die Heere der feindlichen Brüder einander gegenüberstanden, trat Cid zwischen dieselben und forderte die Tapfersten und Stärksten der Scharen von Leon zum Zweikampf. Diese Sitte stammte von den Mauren her, welche durch solche Einzelkämpfe der hervorragendsten Krieger, statt durch Schlachten, die Schicksale der Reiche entschieden. Man nannte diese Vorkämpfer auf Maurisch Mohariz auf Kastilianisch „Campeador“ (in modernem Spanisch desafiador)

Man zog endlich doch wieder den Massenkampf vor. Aber man schloß einen Vertrag über dessen Folgen dahin, der siegreiche König solle das Land des Besiegten erhalten, der Besiegte sich in ein Kloster zurückziehen.

Die Schlacht dauerte einen ganzen Tag. Die Kastilianer unterlagen. Sancho wollte sich dem Schicksal des Besiegten unterwerfen.

„Ach was!“ rief ihm Cid zu, „Alfons und sein Heer wiegen sich in Sicherheit. Sie schlafen ohne Furcht und Mißtrauen, ohne Wachen ausgestellt zu haben. Fallen wir über sie her! Dann gilt kein Vertrag mehr. Macht geht vor Recht!“

So geschah es. Die vertrauensseligen Asturier wurden von Cid und dessen Scharen im Schlafe überfallen und niedergemacht. Alfons wurde gefangen, kahl geschoren und in ein Kloster eingesperrt.

Sancho, nachdem er das Königreich seines Bruders Alfons sich durch Verrath und Wortbruch, wie Cid gerathen, angeeignet hatte, wandte sich nun gegen seine Schwestern. Die eine, Elvira, trat ihm ihre Stadt Toro in Güte ab. Die andere, Urraca, schloß sich in dem festen Zamora ein. Sancho belagerte die Stadt und wurde am Fuße des Walles durch einen Steinwurf getötet.

Nun verließ der entthronte Alfons sein Kloster und bemächtigte sich wieder seines eigenen Königreichs und der Besitzungen seines Bruders. Er suchte seine früheren Gegner durch Wohlthaten an sich zu fesseln. Er verheirathete seine Base Chimena, die Tochter des Don Diego, Herzogs von Asturien, am 19. Juli 1074 mit Cid und überhäufte ihn mit Geschenken. Aber Cid war unersättlich, und zwischen ihm und dem König, welcher wohl wußte, daß es Cid war, auf dessen Rath hin man ihn geschoren und in das Kloster gesperrt hatte, war eine dauernde Freundschaft nicht möglich. Jeder Versöhnung folgte der Streit. Keiner traute dem anderen.

Eines Tages mußte Cid fliehen, und im Jahre 1081 finden wir den christlichen Helden im Dienste der Mauren, unter welchen damals die Bruderzwiste ebenso sehr herrschten wie unter den Christen. Cid steht an der Spitze christlicher Hilfstruppen unter dem Sultan Al-Mutawin zu Saragossa in dem Krieg gegen dessen Bruder. Der letztere hat ebenfalls einen christlichen Condottiere an der Spitze seiner Truppen. Es ist der edle Graf von Barcelona.

Cid schlägt den Grafen. Diesmal begnügt er sich, den Besiegten ihre Waffen und ihre Beute abzunehmen. Er setzt sie in Freiheit – ein Akt der Milde, der nicht wieder bei ihm vorkömmt.

Bald begriff er, daß die Gefangenen unter Umständen ebenfalls eine werthvolle Beute ausmachen. Man konnte sie ja verkaufen. Von nun an macht er von Saragossa aus Streifzüge in die benachbarten christlichen Lande, um Schätze und Menschen zu rauben. In einer Woche führte er zweitausend Menschen aus Aragonien in Kriegsgefangenschaft, um sie auf dem Sklavenmarkt in Saragossa zu verkaufen. Die reichen Antheile an dieser Beute lockten eine große Anzahl geringerer Abenteurer unter sein Banner. So wuchsen seine Scharen und mit ihnen seine Bedeutung. Selbst König Alfons sah ein, die Staatsklugheit gebiete, sich mit seinem alten Feinde zu versöhnen. Er lud ihn ein, an seinem Hoflager zu erscheinen. Allein Cid, der andere nach sich selbst beurtheilte, war zu mißtrauisch, dieser Einladung Folge zu leisten. Statt dessen schlug er ihm ein gemeinschaftliches Geschäft vor: „Erobern wir auf gemeinschaftliche Kosten das Königreich Valencia!“

Um dieses Königreich stritten sich zwei maurische Fürsten, ebenfalls Brüder. Der eine nahm den edlen Kastilianer Alvar-Fannez für täglich 600 Dinare in seinen Sold, der andere den nicht minder edlen Katalanen Gerald Alaman, Baron von Cervellon, für eine noch höhere Summe. Die Mauren standen in der Kultur weit über den Christen, doch die Kultur hatte sie verweichlicht und dem Kriege entfremdet. Daran gingen sie zu Grunde. Einstweilen waren sie reich genug, christliche Führer und Soldaten zu kaufen oder zu miethen.

Die beiden Condottieri vergossen in ihren Schlachten und Scharmützeln eine Menge christlichen Blutes, aber auch maurisches nebenher; jedenfalls wetteiferten sie untereinander, die beiderseitigen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_440.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2021)