Seite:Die Gartenlaube (1893) 422.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Mannes geworden ist. Und ich kann nur noch wünschen, daß er’s gnädig mit ihr mache und sie nicht mit seiner Rohheit zermalme, noch mit seiner Liebe ersticke; denn ihr Leben ist zart, und er hält es bedingungslos in seiner Hand. Ich weiß auch, daß wenn ich sie ihm entreißen wollte, ich ihr Leben mit zerrisse; denn Mariannens Herz klammert sich unlösbar fest, wenn es erst an einem andern hängt.

Das weiß auch Betty, und sie giebt ohne Einwand ihre Einwilligung zur Verlobung. Was hätte sie auch dawider reden können? Die ganze Stadt ist voll von dem unglaublichen Glück das Marianne macht; denn Kurt Trenk ist sehr reich, sehr vornehm, sehr schön, sehr begabt – und was das bißchen Rohheit und Liederlichkeit angeht, so nimmt man ja die bei einem so reich begabten jungen Manne nicht schwer, auch soll ja die Ehe den Löwen die Krallen beschneiden – wie wenigstens die sagen, welche die Löwen nicht genau kennen. Aber selbst wenn die Betty anders darüber gedacht hätte, was hätte es ihr geholfen? So biß sie die Zähne zusammen und lächelte mit bleichen Lippen, wenn Marianne den Goldkopf in ihrem Schoß barg und flüsterte: ,Ich bin so glücklich, Mutter! So glücklich!‘ Sie raffte ihre Sparpfennige zusammen und rüstete die Aussteuer, denn schon im November sollte Hochzeit sein; Kurt Trenk brannte darauf, sein Glück zu genießen, die Promotion warf er wie unnützen Ballast über Bord. Was sollte ihm auch groß der Doktortitel? Er wollte mit Mariannen reisen, in Paris und Berlin wohnen, das Leben und die Jugend in vollen Zügen genießen. Unsere besorgten Vorstellungen, daß Mariannens zarte Gesundheit solche Vergnügungshetze nicht lange ertragen werde, brach er mit mehr oder weniger Höflichkeit kurz ab, und je länger desto öfter machte er namentlich gegen Betty eher von der Kürze als von der Höflichkeit Gebrauch. Augenscheinlich war sie ihm im Wege und er hatte eine Abneigung gegen sie, die zum Theil der Eifersucht auf Mariannens unverändert große Liebe zur Mutter entspringen mochte, die aber wohl mehr ein instinktiver Widerwille war gegen Bettys Unschönheit, ihr männliches Wesen. und ihr gerades und unbeugsames Urtheil. Auch fürchtete er wohl ihre unbequeme Einmischung in sein und Mariannens Leben und war nicht gesonnen, die Betty überhaupt um sich zu dulden. Das kam denn auch ganz unverhüllt zu Tage, als Marianne einmal in aller Selbstverständlichkeit von der Einrichtung der Zimmer sprach, welche die Mutter in ihrem künftigen Heim bewohnen solle, und dabei bedauerte, daß sie mich nicht auch mitnehmen könne. Da, ehe wir noch irgend etwas erwidern konnten, sagte Kurt Trenk sehr ruhig: ‚Du bedenkst wohl nicht, Liebchen, daß Deine Mutter sich von ihrem alten Freunde und ihren alten Lebensgewohnheiten nicht wird losreißen wollen.‘

‚Ach,‘ sagt Marianne lächelnd und nimmt der Mutter Hände in die ihrigen und reibt sie, weil sie eiskalt sind, ‚Du weißt nicht, Kurt, daß wir die Inséparables, die Unzertrennlichen, sind und eins ohne das andere gar nicht leben könnten.‘

Da zeigt Kurt Trenk wieder seine grausamen Zähne und erwidert kurz und hart: ‚Das Weib ist vom Manne unzertrennlich, nicht von der Mutter, Marianne.‘

Marianne wird blaß, ihre Blicke fliegen wie geängstigte Vögel von einem zum andern.

‚Aber warum können wir nicht alle Drei – –?‘ beginnt sie und bricht ab, denn Kurt lacht auf und faßt sie, ein wenig derb, unter das Kinn. ‚Du bist ein Kind, Schätzchen,‘ ruft er und küßt sie, und Betty sagt: ‚Dein Bräutigam hat recht, Marianne,‘ steht auf und geht hinaus. Ich folge ihr, denn ich sehe, daß sie sich kaum auf den Füßen hält. Sie geht aber straff und ohne sich umzublicken durch die nächsten Zimmer bis in ihre Schlafstube. Da wirft sie sich in einen Sessel und läßt zum ersten Male in ihrem Leben die Maske der Selbstbeherrschung von Gesicht und Wesen fallen, schlägt die Hände vors Gesicht und wimmert: ,Ich hab’ mein Kind verloren, mein Kind! Einundzwanzig Jahre hab’ ich ihm jeden Athemzug behütet – und jetzt wird’s mir fortgenommen! Ich hab’ mein Kind verloren!‘ So geht das eine Weile fort, und ich lasse sie gewähren, denn womit kann man Verzweiflung trösten? Ich habe, wann immer ich ihr begegnet bin, ihr die einzige Wohlthat gewährt, sie rasen zu lassen, bis sie sich ersättigt hatte. Und Betty hätte nicht sie selbst sein müssen, wenn sie nicht die Haltung und das Schamgefühl vor sich und mir bald wiedergewonnen hätte. Sie ließ die Hände sinken und sah mich an. ‚Das wäre denn nun vorbei, und ich habe mich in das zu finden, was man den Lauf der Natur nennt,‘ sagt sie ruhig. Aber dann preßt sie wieder die Hände zusammen und flüstert: ‚Wenn’s nur das wäre, Doktor! Mein Kind zu verlieren, darein würde ich mich ja finden, wenn auch mein Herz darüber spränge. Aber ist’s denn wirklich der Lauf der Natur, ist’s das Rechte, dies zarte Kind, das ich gehütet und gepflegt habe von seinem ersten Athemzug an, das nichts kennt als Liebe – dies Kind wehrlos diesem Manne zu überliefern, der roh und rücksichtslos ist in seiner Liebe wie in seiner Lieblosigkeit?‘

‚Sie liebt ihn aber,‘ sage ich; denn Besseres habe ich nicht zu erwidern. Und es ist auch das Rechte gewesen; die Betty blickt mich an und senkt dann den Kopf.

‚Ja,‘ erwidert sie, ‚sie liebt ihn. Also muß sie ihm folgen. Ich will’s ihr nicht zu schwer machen. Denn auch sie wird unter der Trennung von mir leiden.‘

Ob sie litt, die Marianne, als sie nun gewahr ward, woran sie bis jetzt gar nicht gedacht hatte: daß sie zu wählen habe zwischen der Mutter und dem Geliebten, ganz und für immer zu wählen! Aus ihrer Unbefangenheit aufgestört, merkte sie sehr wohl, daß ihrem Verlobten ihre Mutter zuwider sei, und sein immer unverhohlener auftretender Widerwille gegen den liebsten Menschen, den sie bis dahin auf Erden gehabt hatte, dessen unendlichen Werth sie ganz genau kannte, verletzte ihre Liebe und ihren Stolz. Und daraus entsprang bald etwas anderes: ein leises Mißtrauen in das Urtheil oder das Herz dessen, der nicht fähig war, den Werth der Mutter zu erkennen, und der sie selbst nicht genug liebte, um ihretwillen auch die Mutter zu lieben. Sie merkte nun auf. Und da fand sie denn auch, was ihr jener Zufall flüchtig enthüllt, was die Liebe aber wieder mit ihren rosigen Schleiern bedeckt hatte: daß ihr Geliebter roh und gewaltthätig war.

Und nun erschrak sie und schmiegte sich gleichsam an die Mutter, in Angst vor der Zukunft, ja in einer gewissen Abneigung gegen Kurt.

Und einmal kommt es beinahe zum Bruch.

Sie hat einen Streit mit ihm gehabt wegen eines rücksichtslosen Scherzes, den er über die Mutter gemacht hat. Sie hat ihn mit der eisigen Würde, die sie dann annehmen kann, zurechtgewiesen und ist trotz seiner Versöhnungsversuche wieder einmal die kleine Prinzessin in der Isolierschicht geblieben, die mit fortweisendem Finger ihr ‚Dableiben!‘ spricht. Er aber – er ist eben der Kurt Trenk – als sie sich weder für Scherz noch Bitten zugänglich zeigt, nimmt er sie in seine Arme und preßt sie an sich und ruft: ‚Liebste, Liebste, ich hab’ Dich ja unmenschlich lieb! Und Du mich auch! Alles andere ist Unsinn! Komm, sei gut! Unmenschlich gern hab’ ich Dich!‘

Und er hält sie fest, daß sie sich nicht rühren kann, und küßt und küßt sie, bis er fühlt, wie ihre Lippen kalt und ihre Glieder schlaff werden und sie nun in tiefer Ohnmacht in seinen Armen liegt.

So zwang er sie – gegen ihren Willen, gegen ihre Vernunft, ihren Stolz, ihre Kindesliebe, ihre Angst und ihren Widerwillen vor einem Theil seines Wesens – zwang und bannte sie an sich, und sie konnte sich nicht rühren, konnte keine Willenskraft und keinen Entschluß finden und wurde darüber zum Erbarmen blaß und elend. So elend, daß es dem Kurt endlich unangenehm auffiel und er eines Abends sagte: ‚Ich werde Dir alten Rothwein schicken, Marianne. Du mußt täglich eine Flasche davon trinken, sonst wird mein Schätzchen alt und häßlich, ehe ich’s noch habe.‘

Er schickte denn auch wirklich den Rothwein und die Marianne nahm ihn, blaß bis in die Lippen vor Kränkung, und stellte ihn in ein Schränkchen, das im Schlafzimmer am Kopfende von ihrem und der Mutter Bett stand; ein altmodisches niedriges Schränkchen, dessen Thür durch einen nach oben vorschnappenden Eisenriegel geschlossen wurde.

Acht Tage darauf sitzen wir alle Vier zusammen im Eßzimmer beim Abendbrot. Es ist indes Mitte Oktober geworden, die Hochzeit soll in vier Wochen stattfinden und Marianne am nächsten Morgen mit Kurt auf vierzehn Tage nach Schlesien zu seinen Eltern fahren. Es ist die erste Trennung von der Mutter; beide Frauen empfinden sie als einen Vorgeschmack der kommenden endgültigen. So sitzen wir alle ziemlich wortkarg da, die beiden Frauen tauchen die Blicke ineinander, Kurt runzelt die Stirn

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_422.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)