Seite:Die Gartenlaube (1893) 411.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

würde er wohl wenig zu ihren Gunsten vermögen. So wußte sie niemand außerhalb dieser Mauern, der sich kräftig ihrer annehmen konnte, der es auch nur wollen würde, keine Seele.

Einmal war der Herr von Nievern für sie eingetreten, vor dem ganzen Hofe, ach, auch vor langer Zeit, wie es ihr jetzt vorkam. Es war wohl nur eine Laune von ihm gewesen, denn wo sie sich vorher angetroffen, hatte er den Verkehr mit ihr leicht genommen, wie er alles leicht nahm. Aber trotzdem trat ihr sein kräftiges schönes und ein wenig spöttisches Gesicht jetzt oft vor Augen, und jedesmal wehte etwas wie ein Hauch der Freiheit um dasselbe, der ihr Herz mit Sehnsucht füllte zum Zerspringen. Wo dieser Mann war, da war Luft und Leben und Licht, und es schien ihr schon eine traurige Wohlthat, daß es jemand gab, der alledem so unendlich fern stand, womit man sie hier quälte. Gewiß ahnte er davon nichts. Ach, wenn er es gewußt hätte! Er würde vielleicht Mitleid mit ihr gehabt haben. Denn glauben, glauben jenes Fürchterliche, das man von ihr und Lutz sagte, das konnte er im Ernste nicht!

So sehnsüchtig Polyxene in das Stückchen Himmel geschaut hatte, während es nach und nach seine Abendfärbung annahm – jetzt wandte sie rasch und mit gespanntem Ausdruck den Kopf nach der Thür, an der sie ein Geräusch hörte. Denn es war nicht die Zeit, um welche sich dieselbe für sie zu öffnen pflegte zu den Gängen nach der Kapelle. Wirklich wurden die Riegel zurückgeschoben und der Schlüssel herumgedreht. Schon stand Polyxene, die ganze Seele in den Augen. Aber ein Schatten der Enttäuschung flog allsogleich über das gespannte Gesicht, als die Thür nur einer ältlichen Nonne Einlaß gewährte und weiter niemand ... Doch ging das Fräulein der Klosterfrau grüßend entgegen; sie neigte den edlen Nacken dem Segen, den diese geistliche alte Jungfer, eine schmächtige Gestalt, ihr in der üblichen Weise und ein wenig flüchtig mit ein paar ausgestreckten Fingern angedeihen ließ. Dann setzte sich die Nonne zu ihr.

Es schien, als ob sie gekommen wäre, um ein wohlwollend erbauliches Gespräch mit dem unfreiwilligen Gaste des Klosters zu führen. Sie fragte nach den Andachtsübungen, denen sich das Fräulein von Leyen nach Vorschrift zu unterziehen hatte, aber etwa so, wie die Frauenzimmer einander wohl nach dem Fortgang der Stickerei oder Strickarbeit fragen. Denn es lag in der Art und Weise dieser Schwester, die unter dem Schleier ein Gesicht von platter Gewöhnlichkeit zeigte, daß alles, was sie berührte, den Anstrich des Alltäglichen erhielt. Und doch galt sie für klug, um nicht zu sagen schlau, und war von Einfluß im Kloster; sie war sogar mit der Zeit zur Subpriorin desselben aufgerückt. Und da die Aebtissin an Asthma litt – sie war eine Raugräfin von Degenfeld und wohl mehr in Anerkennung ihrer vornehmen Herkunft als infolge ihrer sonstigen etwas verblaßten Eigenschaften zu ihrer Würde im Kloster gelangt – so war von dem Geschäftlichen nach und nach das Meiste der Subpriorin, der Schwester Veritas, zugefallen. Der Pater Gollermann hatte von ihren Gaben keine ganz geringe Meinung und pflegte sich des öfteren mit ihr zu besprechen.

Das alles aber merkte man der Nonne nicht an, und so hatte denn auch Polyxene sie noch kaum von den übrigen Schwestern unterschieden. Während sie nun nach der Zahl ihrer täglich gebeteten Rosenkränze und Ave Marias gefragt wurde und ehrlich Auskunft gab, wartete sie mit Verlangen und zugleich nicht ohne Bangigkeit darauf, daß der eigentliche Zweck des Besuches sich enthüllen möge. Oder sollte die gute Schwester wirklich keinen anderen haben als den, dem Fräulein ein wenig die Zeit in ihrer Einsamkeit zu vertreiben? Fast schien es so, denn sie kam auch auf andere als nur geistliche Dinge zu sprechen und erkundigte sich nach diesem und jenem aus dem Leben Polyxenens auf der Herrenmühle. Da mußte auch Lutzens gedacht werden, natürlich, und man konnte es dem Mädchen wohl anmerken, wie wund die Stelle war, die da berührt wurde. Aber von geistlichen Personen mit ihrem nur auf das Jenseits gerichteten Blicke darf man billigerweise ein Mitgefühl mit irdischem Jammer wie von einfachen weltlichen Leuten nicht verlangen. Und so geschah es ohne sonderliche Schonung, daß die Nonne einmal fragte: „Ihr haltet Eueren jungen Vetter demnach für ertrunken? Und wann, meint Ihr, wäre er verunglückt?“

„Ob ich ihn für ertrunken halte? Ich muß ja wohl,“ sagte Polyxene und sah doch die Nonne dabei an wie in flehentlicher Erwartung, daß diese etwas dagegen sagen möge. Aber unter deren kalten Augen wollte kein Hoffnungsfunken aufglimmen. Das Schlimmste deuchte dem armen Kinde mit einem Male das Wahrscheinlichste, und sie erschauerte und fröstelte vor Jammer.

Die Klosterfrau, die nach Ordensbrauch meist mit gesenkten Lidern saß, hatte zwischendurch doch ein scharfes Auge auf das junge Geschöpf vor sich gehabt. Sie fragte jetzt noch einmal: „Und wo ist das Unglück geschehen?“

„Am Mühlgraben, denn dort fanden wir seine Jagdtasche,“ sagte Polyxene, trostlos vor sich hinstarrend. Was half es, sich noch gegen diese Annahme zu wehren?

Die Nonne ließ jetzt den Gegenstand wieder fallen und kam von neuem auf das geistliche Gebiet. „Und habt Ihr Trost gefunden in der gehorsamen Ausübung dessen, was man Euch vorgeschrieben hat, meine Tochter?“

„Trost? Ach nein, ehrwürdige Mutter,“ sagte Polyxene, rastlos die Finger ineinander schlingend, und ihre gequälten Augen redeten dieselbe Sprache.

Da, mit einem Male – wie war es nur? – da hatte die Nonne einen anderen Ton angeschlagen. Da war von einer eiternden Wunde die Rede, die nach innen schwäre, und die sei das belastete Gewissen. Dagegen gebe es nur ein Heilmittel: ein offenes Geständniß, in das Ohr der Kirche abgelegt. Die Kirche sei unerschöpflich in ihrer Gnade, und ihre Zuchtmittel, wenn sie denn züchtigen müsse, um eine Seele zu retten, seien unendlich milder als die der weltlichen Gerechtigkeit. Taste sie doch niemals das Leben an wie diese, damit die Seele den Wirkungen der Fürbitte der Heiligen noch ausgesetzt bleiben könne.

„Ich verstehe Euch nicht, ehrwürdige Mutter, was soll ich bekennen?“ fragte Polyxene endlich, nachdem sie vergebens versucht hatte, sich in diesen Reden zurechtzufinden. Da ward das Gesicht der Nonne so eiskalt, wie man es bei seinem gewöhnlichen Ausdruck flacher Gutmüthigkeit gar nicht für möglich gehalten hätte. Sie erhob sich und sprach: „Hütet Euch, daß Euere bösliche Verstocktheit Euch nicht noch gereue! Bisher habt Ihr nur die Milde Euerer geistlichen Vormünder kennengelernt. Euere eigene Schuld ist es, wenn sie sich endlich genöthigt sehen, zu den Mitteln zu greifen, die gegen völlig verhärtete Gemüther zur Anwendung kommen. Ernstlich ermahne ich Euch: geht in Euch! In drei Tagen werde ich wieder kommen. Sehet zu, daß Ihr mir alsdann etwas zu sagen habt. Und bis dahin verlaßt Ihr, nach dem Willen unserer hochwürdigen Aebtissin, diese Zelle nicht. Haben bisher unsere Gottesdienste vergeblich an Euer eigensinniges Herz gepocht, damit es seiner Unthat sich durch Bekenntniß entledige, nun, vielleicht bringt Euch die Einsamkeit besseren Entschluß!“

Sie ging nach der Thüre, als wolle sie unaufhaltsam sich entfernen, drehte sich aber zuguterletzt doch noch einmal herum. Gar zu gerne hätte sie dem Pater Gollermann etwas zu berichten gehabt, etwas, was diese nun schon langwierige Angelegenheit förderte. Sie gab sich den Anschein, als glaube sie, das Fräulein habe sie angerufen. Vielleicht hatte auch wirklich die Furcht vor der strengern Klausur schon gewirkt! Nein – oder doch wenigstens nicht in einer Weise, aus welcher die Klosterfrau heute schon hätte Vortheil ziehen können, wie ein Blick sie erkennen ließ. Denn sie sah in ein Antlitz, das allerdings ihr noch immer zugewandt war, aber vor Entsetzen wie versteinert schien. Und der irre und zugleich wilde Ausdruck der Augen war derart, daß die Nonne alles Verlangen nach längerem Bleiben verlor und die Thüre mit einer Hast entriegelte und verschloß, die ihr sonst nicht eigen war. Draußen erst, auf der andern Seite der Thüre, nahm sie sich wieder Zeit und verwahrte den Eingang mit grausamer Langsamkeit. Wenigstens war es der starr und gedankenlos hinhorchenden Polyxene drinnen, als ob das Rasseln der Riegel und Schlösser gar kein Ende nehme.

Dasselbe hatte jedoch lange schon aufgehört, als Polyxene immer noch unbeweglich saß, den Nachhall jener Töne im Ohr, unfähig zu denken, ohne jede andere Empfindung als die eines grenzenlosen Elends. Nur langsam kehrte ihr die Fähigkeit zurück, das, was sie eben gehört hatte, in Gedanken zu bemeistern. Dann aber fuhr sie empor, warf die Arme in die Höhe und nahm den Kopf zwischen die Hände in verzweifeltem Jammer. Solchen Menschen war sie hier preisgegeben, die wie diese Nonne sie für eine Mörderin hielten und in ein tückisches Netz verstrickten, wahrlich nicht um ihres Seelenheiles willen, sondern um ein Geständniß aus ihr

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_411.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2021)