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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

halb fünf Uhr war Theaterprobe, von fünf bis sechs Einzelprobe verschiedener Künstler im Saale des Hotel Milan, von halb neun bis halb zwölf nachts wiederum Probe in der Scala, dazu gesellschaftliche Anforderungen, und dabei war er von höchster Liebenswürdigkeit.

In früheren Zeiten zeigte er sich wohl etwas herber, da mußte er noch etwas auf der Hut sein gegen die Anmaßungen der Künstler. In Florenz lebt heute noch die Sängerin Barbieri-Nini, eine vorzügliche Darstellerin. Sie erzählt, Verdi habe während der Proben fast kein Wort gesprochen, ob er zufrieden war oder nicht. Nie erscholl aus seinem Munde ein Wort der Ermuthigung, nie ein Bravo der Zustimmung. So war er beim Personal nicht beliebt, man nannte ihn den „Bischero“ den „Geigenwirbel“. Ein bestimmtes Duett in „Macbeth“ wurde mehr als hundertundfünfzigmal geübt. Am Abend der Generalprobe – das Theater war übervoll – verlangte Verdi von den Darstellern, daß sie im Kostüm singen sollten. Das Orchester saß bereit, der Chor stand auf der Bühne. Da winkte der Maestro der Barbieri und dem Varesi, mit ihm im Theatersaal noch eine Probe abzuhalten, jenes vielgeprobte Duett nochmals zu proben.

„Aber Maestro,“ rief verzweifelt die Primadonna, „wir stecken schon im schottischen Kostüm. Wie ist das zu machen?“

„Hängen Sie sich einen Mantel um.“

Und Varese, der Plackereien müde, wagte es, geärgert die Stimme zu erheben: „Aber das haben wir nun hundertundfünfzigmal geprobt!“

„In einer halben Stunde werden Sie das nicht mehr sagen, dann sind’s hunderteinundfünfzig.“

Verdis Geburtshaus in Roncole und seine Villa Sant’ Agata.
Nach Bildern aus dem Verlag von G. Ricordi u. Cie. in Mailand gezeichnet von Rich. Püttner.

Es mußte gehorcht werden, und der Sänger folgte dem voranschreitenden Maestro, die Hand am Degengriff, als wenn er ihn durchbohren wollte.

Aber – das Duett wirkte Wunder und mußte an einem Abende fünfmal wiederholt werden. Nach der ersten Vorstellung trat Verdi hastig in das Ankleidezimmer der tief ergriffenen Sängerin, bewegte die Hände, bewegte die Lippen, als ob er eine große Rede halten wollte, aber kein Wort kam aus seinem Munde. Die Barbieri lachte und weinte und war gleichermaßen sprachlos, und Verdi hatte die Augen voll Thränen. Er drückte der Sängerin heftig die Hand und stürzte dann hinaus.

Verdi war und ist ein Feind aller öffentlichen Huldigungen, ganz besonders der Reklame. Zur Zeit der ersten Aïda-Aufführung in Kairo schrieb ihm der berühmte Mailänder Musikkritiker Filippo Filippi, daß er dieser Aufführung beiwohnen werde. Verdi antwortete ihm: „Sie nach Kairo? Aber das ist ja eine der gewaltigsten Reklamen, die man für die ‚Aïda‘ ausdenken könnte. Ach, mir scheint’s, daß die Kunst, auf diese Weise behandelt, keine Kunst mehr ist, sondern ein Handwerk, ein Vergnügungsausflug, eine Jagdpartie, ein irgend etwas, hinter dem man dreinläuft, dem man nicht den verdienten Erfolg, sondern Aufstehen um jeden Preis verschaffen will. Mein Gefühl dabei ist Ekel, Verdruß und Kränkung. Immer muß ich mit Freude und Genugthuung der ersten Zeiten meiner Laufbahn gedenken, da ich, fast ohne einen Freund zu haben, ohne daß jemand von mir sprach, ohne Vorbereitungen, ohne Einfluß irgend welcher Art, mich dem Publikum mit meinen Opern vorstellte, bereit, füsiliert zu werden, und sehr glücklich, wenn es mir gelang, einen günstigen Eindruck zu machen. Jetzt hingegen, welcher Apparat für eine Oper! Journalisten, Künstler, Choristen, Direktoren, Professoren etc. – alle müssen ihr Steinchen zu dem Reklamebau herbeitragen und dergestalt eine Gesamtheit von Kleinlichkeiten schaffen, die dem Werth der Oper nichts hinzufügen, die ihn nothwendig vermindern würden, wenn welcher darin wäre!“

So hat er auch der Politik immer ferngestanden und nur ein einziges Mal sich fangen lassen. Cavour hatte einmal mit einem Freunde über die Wahlen der Provinz Parma gesprochen und sich scherzhaft geäußert: „Machen wir doch unsern Verdi zum Abgeordneten, in Italien brauchen wir so nothwendig ein bißchen Harmonie!“ Verdi nahm an und war Volksvertreter für eine Gesetzgebungsperiode. „Auf Politik,“ sagte er später, „verstehe ich mich nicht. Solange Cavour lebte, blickte ich in der Kammer auf ihn und erhob mich, zuzustimmen, wenn er zustimmte; ich that, wie er that, und war sicher, nicht fehlzugehen. Jetzt, mit den anderen Herren, die zweifellos auch sehr tüchtig sind, finde ich mich nicht mehr zurecht und habe Furcht, eine Dummheit zu machen.“

In der Kammer saß er neben seinem Freunde Sella, und während dieser mathematische Hieroglyphen malte, vergnügte sich Verdi, diese oder jene alberne Phrase der „Ehrbaren“ in Musik zu setzen. Verschiedene solcher verdianischen Autographen sind noch im Besitz früherer Abgeordneten.

Sechs Monate des Jahres lebt Verdi in der Abgeschiedenheit seines Sant’ Agatinischen Tusculums, die übrige Zeit meist in Genua. Hier bewohnte er in frühern Jahren den von Alessi erbauten Palast Sauli in Carignano, nicht fern vom Meere, dessen blaue Fluth er durch Cedern- und Magnolienbäume erblicken konnte. Später bezog er den am entgegengesetzten Ende der Stadt gelegenen historischen Palast der Campofregoso, der dann in den Besitz der Doria übergegangen war. Andrea Doria hatte ihn erweitern lassen, Perin del Vaga, ein Schüler Rafaels, mit Malereien geschmückt. Diese Wohnung wie die Stadt Genua liebt Verdi gar sehr. Seine Lebensweise gleicht der auf der weltfernen Villa. Auch hier steht er frühzeitig auf, dann aber mischt er sich in das lebhafte Treiben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 405. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_405.jpg&oldid=- (Version vom 8.6.2021)