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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Schmerz, den das Leben so mancher Frau birgt. Und wie jede erste große Wahrnehmung erschütterte diese mich tief und beeinflußte fortan mein Denken und Verhalten gegen die Frau.

Als Betty gesund geworden war, trieb sie’s ähnlich mit dem Kinde weiter. Es war ein schwaches Pflänzchen und kümmerte in seinen ersten Lebensjahren so hin, jeden Augenblick bereit, das Köpfchen zu senken und umzufallen. Daß es gegen alles Erwarten leben blieb, hat ganz allein die Mutter möglich gemacht, Tag und Nacht – und wie viele Nächte! – trug sie’s herum, bettete es kühl, wenn es fieberte, und warm, wenn es fror, päppelte es mit der peinlichsten Sorgfalt, hätschelte es, hielt mit Bitten und Schelten, mit wahrer Todesangst und lächerlichem Raffinement jedes Geräusch von ihm fern, wenn es schlief, wachte mit Argusaugen, daß niemand es belästige oder aufrege – ja, meine Liebe, damals lernte ich Goethes Wort verstehen: ‚Zwanzig Männer vereint ertrügen nicht solche Beschwerde.‘ Daß die Frauen, solche wie Betty meine ich, sie eigentlich auch nicht ertragen, das heißt, daß sie sie mit ihrer Jugend und Gesundheit und jedem Restchen von leichtem Sinne bezahlen, der uns anderen so gut durchs Leben hilft, das hat Goethe zu erwähnen vergessen, und wir Männer vergessen es alle und wundern uns hinterher, wie rasch manche Frau äußerlich und innerlich altert, wie gedrückt und kleinlich sorgenvoll sie einherwankt, während ihr Mann den Kopf hoch hält und die Welt in ihrer Weite überschaut.

Und wenn wenigstens die Kinder selbst es wüßten und beherzigten! Dann würde wohl die aberwitzige Lehre der Neuzeit nicht aufgekommen sein, daß nur die Eltern für die Kinder, nicht die Kinder für die Eltern da seien, daß der Mensch keine Dankesschuld für seine Existenz abzutragen und das jetzige Geschlecht sich und die ungehinderte Entfaltung seiner Stärke zu bedenken und über das Vorlebende wie über alles Schwache, Kranke, Alte kühn hinwegzuschreiten habe. Eine bequeme Moral – für Bestien! Dankbar sind freilich auch die Hunde.

Entschuldigen Sie die Abschweifung, liebe Frau; mir läuft immer die Galle über, wenn mir diese allermodernste Bestienmoral in den Sinn kommt. Freilich lebte es sich bequemer in der Welt ohne Gewissen und ohne Mitleid, mit dem Rechte des Starken – bis dann die Bestien sich alle untereinander aufgefressen hätten. Denn das wäre natürlich das letzte Ende. Ich gönn’s ihnen von Herzen. Wohl bekomm’s! Unterdes halt’ ich mich zu meinem Herzenstrost an Menschen wie die Marianne.

Ja, also wie gesagt – oder hab’ ich’s noch nicht gesagt? Die Marianne war von klein auf ein besonderes Kind. Schon äußerlich. Sie sah aus wie eine Prinzessin – Sie verstehen schon, ich meine die im Märchen oder in der Volksphantasie, Haare von ganz feinen Goldfäden, in hundert Löckchen wie ein Strahlenkranz um den Kopf zitternd, ein Teint – nun, die Kinder gleichen ja oft Apfelblüthen, aber die Marianne war doch ganz besonders zart, wie durchsichtig – und sie blieb’s auch. Dazu die schwarzen schimmernden Augen mit dem großen fragenden forschenden Blick. Ich sage Ihnen, Frauchen, mich überlief’s manchmal, wenn sie zu mir aufschauten, als wären sie dem Unbekannten, Ungeheuern, Göttlichen noch ganz nahe.

Merkwürdig auch, wie sie sich zu anderen Kindern und diese sich zu ihr verhielten. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie vor ihrem Elternhaus an der Pumpe steht. Es war auf dem Hinterroßgarten, einer Straße, in deren Hintergebäuden viele kleine Leute wohnen, deren Kinder natürlich die Gasse bevölkerten. Da steht der zweijährige Punkt in seinem weißen Spitzenkleidchen, mit den goldenen Haaren, ganz allein – die Betty lag natürlich im Hinterhalt, aber sie ließ dem Kinde sein Vergnügen an dem früh erwachten Selbständigkeitstrieb. Die Marianne steht also ganz allein da und blickt mit ihrem ernsthaften Gesichtchen still und furchtlos vor sich hin. Jetzt kommt Bewegung unter die Straßenjungen. Sie stürzen in die Thorwege hinein, und dann einer nach dem andern wieder heraus, und jeder trägt in der Hand eine Blume oder einen ganzen Wisch, hastig von der Wiese mitsamt den Grashalmen zusammengerafft, und nähert sich dann fein langsam und artig der Marianne, die schon damals nach nichts verlangte als nach Blumen. Und dieser kleine Punkt streckt das winzige Händchen aus, nimmt die Blumen und sagt: ‚Bitte‘ – denn sie verwechselt noch die Höflichkeitsformeln. Wenn aber einer der Jungen wagt, ihr näher zu kommen, streckt sie den Finger aus und sagt streng; ‚Dadeiben!‘ genau wie eine Königin oder eine Gottheit in ihrer unnahbaren Hoheit – und der unnütze unbändige Straßenjunge zieht sich stracks beschämt und gehorsam wie ein gescholtener Pudel von der kleinen Hoheit zurück. Diese Unnahbarkeit blieb ihr zugleich mit einer nicht nur aus ihrer Schönheit zu erklärenden merkwürdigen Anziehungskraft, die namentlich das männliche Geschlecht zu ihr hinzog. Sie aber ging immer still dahin, als wäre sie von einer Isolierschicht umgeben, die niemand durchdringen konnte. Auch ich nicht, der ich, auch nachdem ich mich längst selbständig gemacht hatte, Haus und Tisch mit meinen alten Freunden theilte – ich war der Betty nach und nach ein Freund geworden und gab mich, da ich Junggeselle blieb, gern in ihre hausfrauliche Obhut. Aber auch dem Vater habe ich Marianne nie vertraulich begegnen sehen, obgleich er sie mit Spielsachen, Näschereien, Blumen förmlich überschüttete. Denn er war sehr stolz auf ihre poetische Schönheit. Einmal traf er sie, als sie gerade wieder ‚Weihnachten‘ spielte. Sie hatte alle Topfblumen, die sie schleppen konnte, in ihr Kinderzimmer getragen und um ihr Tischchen gestellt, den Teppich davor mit Blumen bestreut, ihre Puppen ausgeputzt und mit Blumen geschmückt und saß nun, ein Kränzchen von Tausendschönchen auf dem Kopfe und Blumen im Schoße, auf der Erde und sang mit ihrem lieblichen Stimmchen: ‚Vom Himmel hoch da komm’ ich her.‘ Sie sprach damals selten, sang aber alles nach, was sie nur hörte. Da hob Fritz in einer Aufwallung von Zärtlichkeit sie von dem Teppich in die Höhe und bedeckte ihr Gesichtchen mit Küssen. Sie ließ es lautlos und reglos geschehen; als er sie aber wieder auf die Erde setzte, wischte und rieb sie mit ihrem Tüchlein über die Wange, als wollte sie Flecken davon vertilgen. ‚Seht die Margell!‘ rief er halb belustigt, halb geärgert – ‚ist mir selten passiert, daß die Mädels meine Küsse abwischten. Weißt Du nicht, wer ich bin, Prinzessin?‘

Die Kleine sah ihn ernsthaft an. ‚Du bist nur der Papa,‘ sagte sie.

Nur der Papa!‘ rief Fritz Kolw. Da sah er auf und begegnete dem Blick seiner Frau. Voller, gesättigter Triumph flammte darin und daneben ein Entzücken, eine Glückseligkeit, die dem Fritz das Blut in die Stirne trieb. Von diesem Augenblick an begann die Vergeltung für ihn. Er warb um die Liebe seines Kindes, mit Zärtlichkeit und Strafen, mit Scherz und Ernst, mit Geschenken aller Art. Je mehr er ihr aber nahe zu kommen trachtete, desto ernster zog sie sich von ihm zurück und schmiegte sich an die Mutter. Nicht daß sie für Betty und Betty für sie viel äußere Zärtlichkeitsbeweise gehabt hätte – selten sah ich Mutter und Kind einander küssen – aber sie saßen und gingen stets eng nebeneinander und verstanden einander ohne Worte, durch den Instinkt, in jedem Athemzug und Herzschlag. Und so hat die Marianne jedenfalls viel früher, als wir ahnen konnten, gewußt, wie Vater und Mutter miteinander standen; und ihr Herz hat sich auf die Seite der Mutter gestellt und zum Vater gesagt: ‚Dableiben!‘

Das fühlte der Fritz wohl, und sein erstes vergebliches Werben, das um die Liebe seines eigenen Kindes, brach ihm das fröhliche Selbstvertrauen und allmählich die Lebenslust und den Lebensmuth, trieb ihn aus seinem Hause zu anderen, und von diesen wieder nach Hause. Denn er wurde jetzt inne, daß er draußen nur flüchtige Leidenschaft oder oberflächliche Neigung, aber nie die echte Liebe gefunden hatte – jene Liebe, wie sie seine Frau und sein Kind mit stillen Banden unlöslich zusammenband. Ein verborgen keimendes, rasch fortschreitendes organisches Leiden mag dazu gekommen sein, seinen Leichtsinn und Frohmuth zu brechen: er alterte rasch, kränkelte und starb – treu und sorgsam gepflegt von seinem Weibe, von allem Komfort umgeben, aber ohne Liebe, Betty war nicht unversöhnlich gegen ihn – auch den starrsten Groll bricht die Nähe des Todes – sie liebte ihn nur nicht mehr. Jahrelange Kränkung, Entrüstung und Scham hatten ihre Liebe zu ihm für immer getötet, zumal ihr leidenschaftliches Fühlen sich genug thun konnte in der Liebe zu ihrem Kinde.

Als Fritz Kolw tot und der Nachlaß geordnet war, stellte es sich heraus, daß der Verstorbene nicht nur seine reichen Einnahmen, sondern auch das Vermögen seiner Frau bis auf einen geringen Rest verbraucht hatte. Da zeigte sich mir denn der ganz besondere Charakter dieser Frau wieder in neuem Lichte. Weit entfernt, daß sie den Kopf verloren oder sich das Herz durch Angst vor der Zukunft schwer gemacht hätte! Sie sagte, als ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_399.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)