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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Hirsch, das ihm wohl bekannt war, einzutreten, da hatte er es gethan, weil etwas Unerklärliches in ihm vorging. Unsäglich rührend, hinreißend für ihn war sie, als man sie mißhandelte; einen grausamen Reiz hatte der Ausdruck der Pein auf ihrem holden Gesicht für ihn gehabt, der Ausdruck ihres kindlichen reinen, freventlich zu Boden getretenen Stolzes, so daß er gestanden hatte wie im Banne, die ganze Seele in den Augen, welche ihre Gestalt verschlangen. Noch niemals hatte er dergleichen für irgend ein Weib empfunden. Und selbstsüchtig, wie er gewohnt war zu sein, hatte er dies Neue, Wunderbare auskosten wollen bis auf die Neige und deshalb so lange nur als Zuschauer – aber als was für ein Zuschauer! – dabei gestanden. Selbstsüchtig, ja – aber nicht bis zur Unehrenhaftigkeit und nicht etwa aus kleinlichen Beweggründen der Furcht. Selbstverständlich hatte er daher die Leyens, als es hoch an der Zeit war, gegen die erboste und zügellose Pfalzgräfin in Schutz genommen. Daß er indessen so auffällig sich auf jene Seite gestellt, daß er der Fürstin zum Tort das Fräulein am Arme fortgeführt hatte, dafür wußte nur er den Grnnd und sonst niemand in der Welt. Uebermächtig war mit einem Male das Verlangen in ihm geworden, ihre schlanke Gestalt zu berühren, zu fassen und zu halten. Warum hätte er sich zügeln sollen? Aus Rücksicht auf diesen lächerlichen Hof? Da hätte er ein anderer sein müssen, als er war. So war es denn geschehen. Und der erfahrene Mann hatte mit allen Fibern ihre Nähe empfunden während der wenigen Schritte, die sie nebeneinander gemacht. Ganz erfüllt hatte ihn der köstlich herbe Anhauch, der von dieser jungfräulichen Blüthe ausging, und um so feiner, geistiger war dieser einzige Reiz gewesen, je unbewußter dabei das verstörte liebliche Geschöpf selber war.

Als er sie aber dann an jenem Tage nicht mehr vor Augen gehabt, da war er noch einmal frei geworden, da waren noch einmal alle Geister seines bisherigen Lebens mächtig in ihm erwacht und hatten ihn gewarnt, wie er meinte. Nur nicht sich selber verlieren, nur nicht das kühle Herz, das sich so wohl befindet, indem es jeder Wärme spottet! Und lügenhaft, wie jene Geister sein konnten, sobald es ihr Vortheil erheischte, hatten sie ihm vorgespiegelt, wenn er jetzt gehe, so gehe er, um sich dem Verhältniß zur Pfalzgräfin auf eine Weile zu entziehen, da dieses Verhältniß allerdings auch auf dem Punkte stand, drückend zu werden.

Und nun? Wochen waren seitdem vergangen, zum Theil in rauschender Lust, und die Erinnerung daran bildete einen üppigen Reigen, den schöne, verführerisch schöne Weiber um ihn schlangen. Der Herr von Nievern hatte während dieser ganzen Zeit nach seinem besten Wissen nicht einmal deutlich an die arme Polyxene gedacht. Wie kam es, daß ihm trotzdem jetzt mit einem Male klar wurde, ihr und nur ihr, ihrem unschuldigen und unerklärlich mächtigen Reize habe er eigentlich entfliehen wollen, als er dem Hofe der Pfalzgräfin den Rücken kehrte? Vielleicht war es die Macht des Gegensatzes, die hier gewirkt hatte. Mitten zwischen den verwegenen Schönen, die sich ihm in die Arme warfen, hatte Nievern einen Ueberdruß und dabei doch eine innere hungrige Leere verspürt. Seit einiger Zeit schon war er auf dem Punkte, zur Besinnung zu kommen. Da hatte nun Herr Engelbert von Wildenfels seinem Gaste heute, ohne es zu wissen, einen wunderlichen Dienst geleistet, indem er ihn ahnen ließ, das man auch mit dem toll sprühenden Feuer hier nicht so ungestraft spiele, wie Nievern vermeint hatte. Diese plötzliche, seltsamerweise ganz überraschende Erkenntniß aber bewirkte eine wunderliche Gährung im Gemüth des Oberjägermeisters. Wie, sollte er sich hier, wo er nur hatte genießen und – vergessen wollen, sollte er sich hier gar mühen, dreist gelegten Schlingen zu entgehen? Dem Dufte der wundersüßen dornigen Waldrose war er entwichen, als derselbe begann, seine Sinne zu umfangen, und hier sollte er nun Gefahr laufen, daß die wildwuchernden Ranken der betäubenden Giftblume sich um seine Füße legten und ihn hielten, während sie die Blüthe, die jetzt im Erschließen sich auch schon entblätterte, unbegehrt in seinen Schoß warfen? Herr Gott, wie trieb es ihn mit einem Male zurück, von wo er gekommen war! Er sprang auf und durchmaß mit großen Schritten das Gemach, ungeduldig im Geiste nach einer einigermaßen schicklichen Erklärung suchend, mit welcher er den Vetter Kanonikus abspeisen wollte, wenn dieser sich über die eilige Abreise wundern oder gar gastlich sich ihr widersetzen würde.

Da klopfte es an seine Thür. Der Oberjägermeister ging, zu öffnen, und nahm dem draußen stehenden Pagen von der silbernen Platte einen großen vielfach versiegelten Brief ab. Nievern verzog die Lippen zum Ansatz eines spöttischen Lächelns, als er beim Lichte der Kerzen den Umschlag näher betrachtete. Die gewaltigen rothen Siegel zeigten das Hauswappen der Frau Sabine Eleonore. Die Dame aber oder ihre Vertrauensperson hatte sparsamerweise anstatt eines Kuriers die Thurn und Taxis’sche Post zur Beförderung des Schreibens benutzt, wie die Vermerke auf demselben auswiesen.

Nievern erbrach es bedächtig und entnahm der Hülle zunächst einen Brief, der auf den drei beschriebenen Seiten die eigenhändigen Schriftzüge der Herrin des Birkenfelder Landes trug. Was sie schrieb, war trotzdem rasch gelesen. Da war aber noch ein Blatt. Dieses, mit einer anderen zierlichen Schrift bedeckt, rief einen belebten, fast gespannten Ausdruck auf dem Gesicht Nieverns hervor. Dasselbe zu lesen, hatte er aber jetzt keine Zeit oder keine rechte Ruhe mehr, denn die Eßglocke war schon geläutet worden. So schlug er denn die Blätter wieder zusammen, schob alles vorn ins Kollett und begab sich nach dem Speisesaal, wo der Vetter Kanonikus seiner wartete.

Eine Mahlzeit in diesem Hause war niemals etwas Nebensächliches; eine jede wurde mit dem Aufwand von Förmlichkeit, ja von Prunk in Scene gesetzt, der ihrer Wichtigkeit im Leben des Hausherrn entsprach. Denn eine gute Tafel hielt Herr Engelbert von Wildenfels für ein Haupterforderniß des Daseins, wie solches wenigstens eines Domherrn von St. Alban würdig war. In Uebereinstimmung hiermit war der Speisesaal seines Hauses ein imposantes Gemach. An den Wänden hohe Vertäfelungen von dunklem geschnitzten Holze, auf dem Simse kostbare Tafelgeräthe, mehr zum Prunk als für den Gebrauch bestimmt. Darüber Schildereien tüchtiger Künstler, die auf ihre Leinwand gleichsam noch einmal einen lockenden Ueberfluß alles dessen gehäuft hatten, was eine vornehme Tafel zu besetzen würdig ist. Die sorgsam und prächtig gedeckte Tafel war von zahlreichen Kerzen in silbernen Armleuchtern erhellt und wurde während der Mahlzeit von drei bis vier Dienern feierlich umgangen.

Der Kanonikus, in seidenem Haustalar, ein Urbild behaglichster Wohlgestalt, winkte seinem Vetter freundlich zu. „Beatus ille, qui – das heißt in diesem Falle: Glücklich, wer einmal wieder aus dem Sattel ist, nach vierzehn Stunden, und für seinen rechtschaffenen Hunger zu Hause ein paar Brosamen findet! Greif’ zu, Viktor! Ihr habt doch noch mehr Forellen bereit?“ Dies mit herrischem Auge zu dem auftragenden Diener, welcher ehrerbietig und stumm bejahte. „Gut, sie sollen noch eine Platte voll absieden! – Was meinst Du, Vetter, die unseren hier sind zarter und schmackhafter als die zu Arlon, deucht mir!“

„Mögen alle Brosamen Deines Tisches heute abend ihnen gleichen,“ sagte Nievern, der dem Geschäft der Tafel mit geziemendem Ernste sich hingab.

„Wohl gesprochen,“ lachte der andere. „Denn wer weiß, ob ich nicht Deine Nachsicht nöthig habe. Von wegen des Rehschlegels hat der Koch sich entschuldigen lassen ... er hatte heute noch nicht auf uns gerechnet.“

„Wenn man Dich ansieht, liebwerther Vetter, so möchte wohl ein jeder Kanonikus sein,“ meinte Nievern nach einer Weile, während sie weiter tafelten. „Und doch, als wir heute früh an St. Menehould vorübertrabten und dort hinter dem Gitter des Parkes die Zöglinge der frommen Väter sich so trübselig rekreieren sahen, immer zu zweien lustwandelnd, da dauerten mich die Bursche . . . geistlich sein steht unseren Jahren immer noch besser an als der Jugend.“

„Ja, dort im Jesuitenkolleg werden sie kurz gehalten,“ sagte der Kanonikus beschaulich. „Die Väter sind berühmt als Erzieher; das heißt, manchen wilden jungen Falken, der die Kappe nicht tragen wollte, haben sie dort schon zahm gemacht, so daß er nachher nur von ihrer Hand auszustoßen wußte, Sie nehmen aber auch so leicht keinen auf, um den es sich nicht lohnt.“

„Mich dünkt, die Väter von der Gesellschaft Jesu thun überhaupt so leicht nichts, was sich nicht lohnt,“ warf Nievern trocken dazwischen.

„Du liebst sie nicht; auch ich bin dem Orden nicht sonderlich grün,“ gestand der Kanonikus. „In Frankreich sind sie es, welche die endlosen Händel in den letzten Jahren des alten Königs Ludwig erregt haben. Die zu St. Menehould, wie gesagt, befassen sich fast nur mit jungen Edelleuten, jüngeren Söhnen und meist solchen, in denen das heiße adlige Blut durch scharfe Zucht erst einmal gekühlt werden soll.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_391.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2021)