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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Herzens ganz und gar die Stelle der schärfsten Einsicht vertrat. Selbst er, der nüchterne Philosoph, vergaß nicht sobald wieder den Ausdruck verwirrten Entsetzens, mit dem sie ihn angesehen hatte, als sie von ihm den weitern Umstand erfuhr, daß zwei der hochwürdigen Herren selber es fur der Mühe werth gehalten hätten, sein Mündel in einem Wagen abzuholen und ins Kloster zu führen. Dann ist alles aus! schienen ihre verstörten Mienen zu sagen.

Es ziemte sich diese hoffnungslose Ansicht für den erfahrenen Mann nun wohl nicht, aber auch in ihm wirkte jetzt das Vorgefühl, daß es sich hier um den Kampf mit einer schwer zu fassenden Macht, um einen Kampf mit sehr zweifelhaftem Ausgang handeln werde.

Von dem adligen Hause am Markte, in welchem er verweinte und betretene Gesichter zurückließ, begab sich der Oberst nach dem Residenzschlosse selber. Doch diesmal nicht als ein an allerhöchster Stelle Audienz Suchender. Er hatte seinen Besuch vielmehr der Obersthofmeisterin zugedacht. Der Herr von Gouda handelte damit wie ein Soldat, der um den Feind, dessen Ort er beschleicht, immer engere Kreise zieht. Dasjenige, dem er auf seine Art nahe kommen wollte, war die schnöde Anschuldigung gegen Polyxene. Wo das Uebel ungefähr saß, das konnte er erkennen: es mußte in der allernächsten Umgebung der Fürstin sein, zu welcher der vertraute Beichtvater gehörte. Wußte nun auch die Kallenfels nichts, dann schrumpfte das Gebiet jener unerhörten Beschuldigung so zusammen, daß Raum für kaum mehr als Einen oder Zwei darauf blieb. Und da würde es dann nicht mehr allzu schwer sein, auf den eigentlichen Urheber den Finger zu legen.

Und doch schwerer, als der Oberst von Gouda mit all seiner Kunst im Einnehmen fester Stellungen vermeint hatte! Ergab sich aber auch nicht völlig, was er wissen wollte, aus seiner Unterredung mit der Obersthofmeisterin, so erfuhr er in derselben doch mancherlei. Vor allem, daß diese Dame mit Wehmuth ihre eigene Charge am Hofe nur noch als den Schatten dessen, was diese seither gewesen war, betrachtete. Sie war des Vertrauens ihrer Fürstin beraubt, und nicht nur das: der redlichen Ausübung ihres Amtes, über die Formen und Regeln der Etikette, ja des Anstandes am Hofe zu wachen, erwuchsen stets größere Hindernisse. Es fielen jetzt „Horreurs“ in dieser Hinsicht vor, über welche die höchstseligen birkenfeldischen Herrschaften, hätten sie dieselben erfahren können, in ihren Gräbern sich würden herumgedreht haben. Welches Exempel wurde gegeben, wenn rang- und titellose Personen von keineswegs genügend bekannter Herkunft sich einer auffälligen Bevorzugung der Pfalzgräfin erfreuen durften! „Ich verhehle es Dero Gnaden nicht, daß meine Worte auf diese neue Figur am Hofe, auf die Frau von Méninville, zielen; sie thut es an Geltung bei meiner Fürstin uns allen zuvor,“ sagte die Würdenträgerin, mit der ihr eigenen trockenen Ergebenheit in ihr Schicksal; und gerade die hohe eintönige Stimme und das unbewegliche Repräsentationsgesicht mit seinen Spuren des Alters machten sie dabei für den tiefer Blickenden zu einem Gegenstande besonderen Mitleids. „Nicht nur, daß die Freundschaft mir entzogen ist, welche, wie ich wohl sagen darf, Frau Sabine Eleonore für mich hegte,“ fuhr die Obersthofmeisterin fort, „auch das Ansehen meines Amtes wird tagtäglich geschmälert durch beispiellose Vorkommnisse. Und das des Hofmarschalls nicht minder! Werdet Ihr es glaublich finden, geschätzter Herr und Freund, daß diese mehrerwähnte Person es letztlich auf sich nimmt, Audienz Suchende bei unserer Hoheit einzuführen, unter dem Vorgeben, ich sei nicht zur Stelle gewesen, um zu rechter Zeit Meldung zu thun? Daß eigene Handschreiben unserer Fürstin expediert werden, ohne daß das Hofmarschallamt ein Sterbenswörtchen davon erfährt? Um Euch ein Beispiel zu geben: Die Mittheilung, es seien heute vormittag schon Personen des Antlitzes der Pfalzgräfin theilhaftig geworden, muß ich, die Obersthofmeisterin, von Dritten erhalten!“

„Wer war hier zur Audienz? Der Pater Gollermann oder der Herr Dekan Zindler?“ warf hier der Oberst von Gouda kurz dazwischen. Die Dame sah ihn an, mit mehr Lebhaftigkeit, als sie bisher gezeigt hatte. „Also auch Euch finde ich informiert von Dingen, die ich billig zuerst wissen sollte. Ist der werthe Herr und Freund gekommen, um meiner zu spotten? Ich habe es kein Hehl: mein Brot hier esse ich mit Schanden – ich erfahre nichts und weiß nichts mehr.“

„Auch nicht, wer meiner Nichte Polyxene eine böse Suppe, wie mir fast scheinen will, eingebrockt hat?“ fragte unverweilt der Oberst, dessen unzweideutige Derbheit und Kürze nicht ohne wohlbedachte Absicht war.

„Ihr sprecht in Räthseln Herr,“ sagte Frau von Kallenfels, ihre Betroffenheit unter etwas wie steifem Unwillen verbergend. „Was meint Ihr?“

„Mit ausdrücklicher Bewilligung Euerer Frau Pfalzgräfin, wenn ich den Worten der beiden Herren trauen darf, haben der Pater Gollermann und der Dekan Zindler Polyxene gestern in das Ursulinerinnenkloster gebracht, angeblich, weil ihr Credo einer Revision bedürftig wäre,“ sagte der Oberst mit gleichmüthiger Stimme, aber die gute Dame genau im Auge behaltend.

Sie sah ihn sonderbar an, jedoch sein Scharfsinn deutete das Mißtrauen in ihrem Blicke richtig: ein flüchtiger Zweifel war ihr gekommen, ob auch der wunderliche Herr ganz zurechnungsfähig sei und nicht etwa von leeren Einbildungen beherrscht werde. „Ich berichte Euch, was wahr ist,“ sprach er mit ernsthaftem Nicken.

„Verzeiht“ – sie war jetzt, soweit dies bei ihr möglich, fassungslos; sogar die Farbe ihres Gesichtes hatte sich verändert und war fahler geworden, trotz der dauerhaften Verkupferung – „Verzeiht,“ sagte sie, „wenn ich meinen Ohren nicht traute. In dieser Sache waren also die beiden Patres heute schon hier! Herr, wenn so gegen eine vom Adel vorgegangen wird, so bedeutet das nichts Gutes für uns alle. Das beklagenswerthe Fräulein! Wessen sagtet Ihr, zeiht man sie? Es kann doch nichts Ernstliches sein?“

„Sie scheinen es in Sachen der Religion jetzt hier genauer nehmen zu wollen,“ sagte der Oberst trocken. „Meine Nichte ist verklagt worden, weil sie ein sieches Weib besucht hat, das im Kirchenbanne lag.“

„Sie hat nicht klug daran gethan. Und doch ist dies scharfe Vorgehen gegen ein junges Fräulein von Stand unerhört,“ meinte die Obersthofmeisterin bekümmert. „Wo soll das alles noch hinaus! Wir alle konnten eine üble Laune der Pfalzgräfin gegen das Fräulein von Leyen schon neulich auf der Hofjagd bemerken. Nie aber hat unsere Fürstin, wenn sie schon einmal grillig und, zu Euch im Vertraueu gesagt, widerhaarig war, eine solch eifrige Strenge und Härte gezeigt wie die, mit welcher man jetzt, und in ihrem Namen, sagt Ihr, gegen das Fräulein verfährt. Da möchst ich um alles mit Euch wetten: das kommt nicht von ihr allein. Das sieht ihr gar nicht gleich!“

Der Oberst erfuhr auf sein Befragen jetzt erst, wie peinlich die Vorgänge auf der erwähnten Hofjagd gewesen waren. Nach einigem Nachdenken begann er: „Fast möcht’ ich nun die Frage an die hochzuverehrende Dame stellen, ob sie vermeine, es habe meine Nichte Polyxene hier bei Hofe etwa einen Feind, der ihr hinterlistig schadet. Obwohl mir schwer fällt, einzusehen, womit sich ihre harmlose Jugend irgend eine Feindschaft sollte zugezogen haben.“

„O, das ist vielleicht nicht so schwer, wie der Herr meint,“ fuhr es der Obersthofmeisterin heraus. „Wir alle kennen hier eine Person, der es wohl zuzutrauen wäre, das Ohr unserer gnädigsten Frau gegen getreue Unterthanen, selbst vom Adel, einzunehmen, wenn sie sich dabei einen Vortheil ersähe!“

„Ihr meint die Frau von Méninville?“ sagte der Oberst. Das klang aber schon ablehnend, als wollte er sagen: wenn Euch Euer Groll gegen diese Frau nur nicht zu Phantasien verleitet!

„Und wenn ich sie meinte, Herr?“ gab die Dame zurück. Die beiden saßen in dem eigenen Gemache der Obersthofmeisterin, vor den Spähern und Lauschern sicher, an denen es einem Hofe nie gebricht. Die Kallenfels fuhr daher jetzt mit einem Nachdruck fort, mit dem noch wenige Menschen sie reden gehört hatten: „Verzeih’ mir Gott meine Sünde, wenn ich ihr zuviel thue, aber ich halte diese Person böslicher Einbläsereien wohl für fähig!“

„Welchen Zweck aber oder vielmehr welchen Nutzen hätten solche im Falle meiner Nichte für die beregte Dame gehabt?“ warf der Oberst mit Kopfschütteln ein.

„Danach fragt Ihr mich zur Zeit noch zuviel,“ gestand die Kallenfels. „Wie sie aber hier am Hofe in die Höhe gekommen ist, das ist etwas so Wunderbarliches, daß wir ihr auch noch ganz andere Pläne zutrauen können, Pläne, denen der Verstand rechtlicher Leute so leicht nicht nachzukommen vermag. Eins aber ist gewiß: die Méninville hat das Ohr unserer gnädigsten Frau mehr als irgend jemand sonst, und Ihr spürt, was dabei herauskommt. Wann wäre eine solche Strenge in religiösen Händeln sonst je erhört gewesen?“

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