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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Vorgangs schien ihnen auf einmal zum Bewußtsein zu kommen, selbst Fallner stand regungslos da, wie erschreckt über seine That. Das Geschrei war verstummt; niemand hinderte Dernburg, der mit bleichem Gesicht und zusammengepreßten Lippen sich langsam niederbeugte und den Bewußtlosen in seine Arme nahm.

Inzwischen hatten die Beamten, als der Platz vor dem Hause frei wurde, einen erneuten Versuch gemacht, zu ihrem Chef zu dringen; das war nur theilweise gelungen, aber sie befanden sich doch bereits in seiner Nähe, als der blutige Vorfall sich ereignete. Doktor Hagenbach wußte das mit rascher Geistesgegenwart zu benutzen. „Platz für den Arzt!“ rief er, sich vorwärts drängend. „Laßt mich durch!“

Das Wort half, es öffnete sich für ihn eine schmale Gasse in der dicht zusammengekeilten Menge und die Beamten drängten nach; in wenigen Minuten war Dernburg von ihnen umgeben. Doch dieser kümmerte sich nicht darum; er kniete neben Egbert, dessen Haupt er stützte, und als der Doktor sich jetzt niederbeugte und die Wunde untersuchte, fragte er leise im Tone tiefer Angst: „Ist er – tödlich getroffen?“

„Sehr schwer!“ sagte Hagenbach laut und ernst. „Er muß augenblicklich fortgeschafft werden.“

„Nach dem Herrenhause!“ fiel Dernburg ein. „Jawohl, das ist das beste.“ Der Doktor legte rasch einen Nothverband an und wandte sich dann dem blutenden Landsfeld zu, um auch ihn zu untersuchen. „Hier ist keine Gefahr!“ rief er laut den Umstehenden zu. „Der Schlag hat den Mann nur betäubt. Tragt ihn ins Haus – er wird bald wieder zur Besinnung kommen, zu besorgen ist nichts. Aber Runeck – der ist schwer getroffen!“

Seine Miene verrieth, daß er das Schlimmste fürchtete, und das entschied die Haltung der Menge. Es entstand ein erregtes Gemurmel, das sich von Mund zu Mund fortpflanzte, bis in die Reihen derer, die zu ferne gestanden hatten, um den Vorfall mit anzusehen. Und als nun Egbert aufgehoben und fortgetragen wurde, ging eine Bewegung des Schauers durch die Menschenmassen. Sie sahen ihren Abgeordneten, den sie ihrem Chef zum Trotze gewählt und mit lautem Jubel auf den Schild gehoben hatten, blutüberströmt, leblos auf den Armen der Beamten, die ihn trugen, und der alte Chef schritt neben ihm und hielt die Hand des Bewußtlosen in der seinen. Es bedurfte keiner Aufforderung, Platz zu machen; alles wich stumm zur Seite, wo der traurige Zug vorüberkam, kein Wort, kein Laut ließ sich vernehmen. Wie Todesschweigen lag es über all den Tausenden.




Inzwischen harrte man im Herrenhaus angstvoll auf den Ausgang jenes Lärmens und Tobens, das deutlich vernehmbar von den Werken herüberscholl. Maja war erst aus dem Parke gekommen, als ihr Vater sich bereits drüben inmitten der Arbeiter befand, sie konnte ihn also nicht mehr sprechen. Sie wollte zu Cäcilie flüchten, um dieser ihr Herz auszuschütten, fand sie aber in einer so besinnungslosen Angst und Aufregung, daß eine Aussprache unmöglich war.

„Laß mich, Maja!“ flehte die junge Frau verzweiflungsvoll. „Nur jetzt laß mich! Später will ich alles von Dir hören, Dir in allem Rede stehen, aber jetzt kann ich nichts anderes denken und fühlen als seine Gefahr!“ Damit war sie hinausgeeilt auf die Terrasse, von wo man nach den Werken hinüberblicken konnte.

Der armen Maja wurde das Herz noch schwerer. Seine Gefahr! Damit konnte doch nur der Vater gemeint sein, an dem auch Cäcilie mit aller Liebe hing. War er denn wirklich so schwer bedroht unter seinen Arbeitern?

So war mehr als eine Stunde vergangen und Maja hielt es nicht länger aus. Was sollte Oskar von ihrem Ausbleiben denken! Er mußte glauben, sie sei in ihrem Entschluß wankend geworden, sie wolle ihn allein ziehen lassen – ins Verderben! Sie mußte zurück zu ihm, nur auf wenige Minuten, um ihm zu sagen, daß es unmöglich sei, den Vater jetzt zu sprechen! Mit fliegendem Athem eilte sie in den Park, der schon in tiefer Abenddämmerung lag. Da kam ihr der Vater entgegen.

Dernburg hatte mit seinen Begleitern den kürzesten Weg gewählt, jenen kleinen Seitenpfad, auf dem er vorhin nach den Werken gelangt war und den man von der Terrasse aus nicht sehen konnte. Egbert war schon unterwegs durch die Bewegung des Tragens und den Schmerz der Wunde wieder zur Besinnung gekommen; seine erste Frage hatte Landsfeld gegolten. Hagenbach erklärte auch ihm, daß dessen Wunde unbedeutend und nicht die geringste Gefahr vorhanden sei, und ein tiefes erleichtertes Aufathmen verrieth, wie sehr diese Auskunft den Verwundeten beruhigte. Maja, die im ersten Augenblick nur den Vater sah, warf sich stürmisch an seine Brust. „Du lebst, Papa, Du bist gerettet! Gott sei Dank, nun wird alles gut werden!“

„Ja, ich bin gerettet – um diesen Preis!“ sagte Dernburg leise, indem er hinter sich deutete. Das junge Mädchen gewahrte jetzt erst den Verwundeten und stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

„Still, mein Kind!“ mahnte Dernburg, „Ich wollte Euch nicht erschrecken. Wo ist Cäcilie?“

„Draußen auf der Terrasse. Ich muß sie benachrichtigen, sie ängstigt sich fast zu Tode um Dich,“ flüsterte Maja, mit einem angstvollen Blick auf den Jugendgespielen, der wie ein Sterbender aussah. Dann eilte sie davon zu ihrer Schwägerin.

Dernburg ließ Egbert in sein eigenes Schlafzimmer tragen und half ihn dort auf das Bett niederlegen, während Doktor Hagenbach sich um ihn bemühte und dem rasch herbeigerufenen Diener einige Anweisungen gab. Da öffnete sich die Thür und in Majas Begleitung erschien Cäcilie; ohne sich um die Zeugen zu kümmern, ohne sie auch nur zu sehen, stürzte sie mit einer stürmischen Bewegung zu dem Lager und sank dort in die Knie. „Egbert, Du hattest mir doch versprochen, zu leben!“ rief sie verzweifelnd, „und nun hast Du doch den Tod gesucht!“

Dernburg stand da wie vom Blitz gerührt. Er hatte nie auch nur die leiseste Ahnung von dieser Liebe gehabt, und nun verrieth der eine unbewachte Augenblick ihm alles.

„Ich wollte ja nicht sterben, Cäcilie, gewiß nicht,“ sagte Egbert matt. „Aber es gab keine andere Möglichkeit, ihn zu retten.“

Sein Auge wandte sich auf Dernburg, der jetzt herantrat und noch immer fassungslos von einem zum anderen blickte. „Steht es so mit Euch beiden?“ fragte er langsam.

Cäcilie antwortete nicht; sie umklammerte nur mit beiden Händen die Rechte des Geliebten, als fürchtete sie, man könnte sie von ihm trennen. Egbert versuchte zu sprechen, aber Dernburg hinderte ihn daran.

„Sei ruhig, Egbert,“ sagte er ernst „Ich weiß, daß Erichs Braut Dir heilig gewesen ist, Du brauchst es mir nicht erst zu versichern; und nach seinem Tode hast Du ja heute zum ersten Mal wieder Odensberg betreten. Mein armer Junge! Der Gang ist Dir verhängnißvoll geworden, Du hast ihn mit Deinem Herzblut bezahlen müssen.“

„Aber dies Blut hat mich doch frei gemacht von der Kette!“ rief Egbert aufflammend. „Ihr ahnt alle nicht, wie schwer ich daran getragen habe. Jetzt ist sie gebrochen – ich bin frei!“

Er sank erschöpft zurück, und nun mischte sich Doktor Hagenbach ein. Er verbot dem Verwundeten aufs bestimmteste jedes Sprechen und jede weitere Aufregung und verhehlte ihm das Gefährliche seines Zustandes nicht.

Dernburg blickte auf seine Schwiegertochter, die mit gefalteten Händen stehend zu ihm aufsah, er verstand die stumme Bitte. „Egbert braucht also volle Ruhe,“ sagte er ernst „und eine aufopfernde Pflege. Ich übergebe ihn Dir, Cäcilie – Du wirst hier die beste Pflegerin sein!“ Er beugte sich noch einmal zu dem Verwundeten nieder, wechselte einige leise Worte mit dem Arzt und ging dann in sein Arbeitszimmer. Maja, die bisher wortlos an der Thür gestanden hatte, folgte ihm, aber sie nahte dem Vater so scheu und zögernd, als habe sie selbst eine Schuld zu beichten.

„Papa, ich habe Dir etwas zu sagen,“ flüsterte sie mit gesenkten Augen. „Ich weiß, Du hast heute schon so Schweres durchgemacht – aber ich kann nicht warten. Da draußen im Park harrt jemand meiner und Deiner Entscheidung – ich soll sie ihm bringen. Willst Du mich hören?“

Dernburg hatte sich zu ihr gewandt. Ja freilich, er hatte heute Schweres durchgemacht, aber jetzt kam das Allerschwerste. Er streckte beide Arme aus, und seinen Liebling an die Brust schließend, sagte er mit brechender Stimme: „Meine kleine Maja! Mein armes, armes Kind!“ – –

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_371.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)