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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

und das Gemach erst! Flaschen standen da wohl oben auf den staubigen Simsen, aber man spürte zu ihrem Inhalt so wenig Zutrauen wie zu denen im Laden des Apothekers.

Doch zeigte der Oberst jetzt mehr Einsicht in den Zustand einer anderen Kehle, als ihm der Strieger zugetraut hätte. Er sagte, aus seinem unerquicklichen Sinnen zu sich kommend: „Warte, Alter, einen Botenlohn hast Du Dir verdient,“ verließ das Zimmer und kam nach kurzer Frist zurück, etwas steif und in einer Weise, der man das Ungewohnte ansah, einen Krug und einen Becher herbeitragend. Er machte auf dem Schreibpult Platz und setzte beides für den Waldmann hin. Der Strieger aber übersah das Trinkgefäß, wohl nicht ohne Absicht, und hob ohne weiteres den Krug an den Mund. Als er absetzte, flog ein hastiger Blick nach dem Spender hinüber, denn allzu bescheiden war er nicht gewesen. Der Herr von Gouda aber hatte nicht acht darauf gehabt, wieviel sein Besucher getrunken; ihm ging das, was er gehört hatte, zu stark im Kopfe herum, und als der Strieger, dem es in den vier Wänden längst schon zu enge geworden war, sich nunmehr zum Gehen wandte, hielt er ihn nicht zurück. In seiner klugen Weise jedoch warf er hin, da jener schon unter der Thüre war: „Du bist ein Freund des Fräuleins, wie ich merke, Alter. Und wenn Du heute dies fertig gebracht hast, so bist Du, dächt’ ich, auch noch nicht zu morsch, um dann und wann einen anderen Gang für mich in Sachen des Fräuleins zu thun, so ich einmal einen verläßlichen Kerl brauche. Wie alt bist Du?“ fügte er noch hinzu, halb und halb in jener trockenen Scherzhaftigkeit, die selbst bei ernsthaften Händeln seine Art war. „Du hast wohl das Nachzählen verlernt? In die Hundert, wie?“

Er habe allerdings seit langem sich nicht mehr um sein Alter gekümmert, gab der Waldwart zu. Das aber wisse er: wie damals der große Krieg zu Ende gekommen, der aber schon vor seiner Zeit begonnen habe und an die dreißig Jahre gedauert haben solle, da sei er ein Bursch in den zwanzigen gewesen.

Der Oberst rechnete nach. „Ueber neunzig,“ murmelte er dann als Ergebniß und sah darauf, beim Schein der Oellampe, mit der er ihm die Stiegen hinabgeleuchtet hatte, den sehnigen Alten noch einmal schärfer an. Wie dem die Augen noch aus den tiefen Höhlen in dem verwitterten Antlitz funkelten! „Und siehst noch scharf?“ fragte er in halbem Neid.

„Wie ein Luchs,“ versicherte der Strieger. „Und von wegen dessen, was Ihr eben sagtet, gnädiger Herr: wollt Ihr den Strieger brauchen, um dem Fräulein was zu Nutz und den Schwarzen zum Tort zu thun, so läuft er Euch noch heute nacht bis Trier.“

„Er laufe jetzt nur hinauf zum Heidenkopf und ruhe da seine Knochen aus,“ sagte der Herr von Gouda darauf nur. „Aber wenn ich seiner einmal bedarf, wie soll ich ihm das kund werden lassen? Denn hinauf zu Dir kann ich nicht, Alter; ich bin des Fußwanderns entwöhnt, und Du wärest ja auch wohl schwer zu finden.“

Mit seiner Jägerschlauheit wußte darauf der Strieger alsbald Rath. Er beschrieb einen Weidenstrunk hinter den Scheuern, im alten Grasgarten. Dahinein sollte der Herr Oberst irgend ein Zeichen praktizieren, einen Strohwickel oder ein zusammengeknotetes Tüchlein – eine schriftliche Botschaft hätte wenig Werth gehabt, da der Strieger des Lesens niemals kundig gewesen war – und der Alte verhieß, daß er des öfteren dort nachsehen und, wenn er das Zeichen finde, am Abend darauf hier zur Stelle sein wollte.

Zuletzt schüttelte er den Kopf. „Daß ich noch einmal das Umherstreifen kriege! Aus dem Walde dort oben bin ich vor diesen Tagen so lange nicht gekommen, daß unter der Weile ein saugendes Kind hätte groß und zum Bräutigam werden können. Gebt acht, das dumme Volk wird sagen, der Alte vom Heidenkopf gehe um! Denn daß er es selber noch im Leibesleben und in seiner alten Haut ist, das glauben viele nicht, und wenn’s ihnen ihr Pfarrer sagt.“ Er lachte in sich hinein. „Dem Strieger, dem hat Sankt Velten schon lange den Kragen herumgedreht, und er spukt nun herum in dem verwitterten alten Fell und thut ihnen Schabernack an, wie’s ein getaufter Christenmensch nimmermehr könnte, und wenn ihm auch Regen und Schnee von neunzig Wintern – sagtet Ihr nicht neunzig? – das heilige Wasser abgewaschen haben. Geht hinein, Herr! Ihr kriegt noch das Reißen von der Nachtluft, und ich finde meinen Weg schon.“

Plötzlich befanden sie sich beide im Dunkeln und pechschwarz schien im Gegensatz zu dem Licht eben die verhängte Herbstnacht; ein Luftzug hatte die Lampe ausgeblasen.

Vom Strieger kam es noch wie ein gurgelndes leises Lachen, dann hörte man nichts mehr von ihm, keinen Laut. Der gelehrte Herr dachte, indem er sich nun die Stiegen hinauf tastete, diesem Verschwinden des Alten noch ein weniges nach und verglich ihn im Geiste mit den braunen Jägern Kanadas, deren Bekanntschaft man jetzt in Europa durch die Berichte englischer Ansiedler machte, um sich über die Schärfe ihrer durch keine verkünstelnde Kultur geschwächten Sinne zu wundern.

(Fortsetzung folgt.) 



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Weltverbesserer.

Von Dr. J. O. Holsch.
V.
Einige Weltverbesserungsversuche im kleinen.

Wer sich in die Lehren eines Morelly, Rousseau und ihrer Geistesverwandten vertieft, jener Philosophen, welche Welt und Menschenleben gleichsam in mechanische Formeln bannen zu können vermeinten, dem eröffnet sich ein ahnungsvolles Verständniß für die gefühllose Grausamkeit, mit welcher die französische Revolution ihre Bahn dahinschritt, für die starre Härte, mit welcher die Guillotine unter einem Robespierre und Genossen ihres fürchterlichen Amtes waltete. In den Köpfen dieser Gewaltmenschen war kein Raum für Duldsamkeit. Was sich nicht glatt in den unverrückbaren Rahmen der von ihnen „zum Beschluß erhobenen“ Welt einfügte, das wurde einfach abgestoßen, weggeschnitten, vertilgt. Eine neue Zeit sollte beginnen, darum fing man auch die Jahre ganz frisch mit I zu zählen an. In grausam kurzer Frist erlebte diese Lehre freilich ihren erschütternden Bankerott, und mit der alten Zeitrechnung erhob auch die scheinbar zertretene alte Welt wieder ihr Haupt. –

Es läßt sich nicht verkennen, daß den Männern und Frauen, welche in der ersten französischen Revolution bedeutsam hervorgetreten sind, ein utopistischer Zug anhaftet, ja daß bis zu einem gewissen Grade eine Utopie, ein in unbestimmter Gestalt vorschwebendes fernes Ziel von Glückseligkeit, die treibende Kraft in ihrer Seele bildete. Trotzdem wäre es falsch, zu behaupten, diese Revolution sei selbst nichts als eine Utopie gewesen. Sie war vielmehr ein wichtiger Fortschritt, eine Art von Reinigungsvorgang, nicht bloß für Frankreich, sondern auch für die übrigen Völker Europas, denn sie verwandelte den beschränkten Unterthan in einen politisch mehr oder weniger freien Staatsbürger. Daß jedoch dieses mehr oder weniger freie Staatsbürgerthum wieder hinterher „unfrei“ gemacht werden kann, wenn nicht ein gewisses Maß von wirthschaftlicher Freiheit und Sicherheit dazu kommt – das zunächst zu spüren und zu erfahren, später aber klarer und immer klarer einzusehen, war dem nun zu Ende gehenden neunzehnten Jahrhundert vorbehalten.

Gerade der Verlauf und das Ende der französischen Revolution aber mußte jedem Tieferblickenden nahelegen, systematische Weltverbesserer und Staatsumwälzer eindringlich auf die Durchführbarkeit ihrer Ideen und Vorschläge hin zu prüfen. Je mehr dies geschah, je mehr Kritiker die eine furchtbare Erfahrung erzog, um so enger mußte auch der Kreis zusammenschrumpfen, in welchem jene Verkündiger einer neuen Welt die praktische Gestaltungskraft ihrer umwälzenden Vorschläge erproben konnten. Und auch auf diejenigen selbst, die sich mit Weltverbesserungsgedanken trugen, mußte das ungeheure geschichtliche Ereigniß, das sie schaudernd erlebt, als ein mächtiger Dämpfer wirken. So nehmen denn auch bei einer Reihe von Männern, die in diesem Zeitalter durch inneren Herzensdrang oder durch die Einwirkung ihrer Umgebung zur planmäßigen Verbesserung der Lebenslage ihrer Mitmenschen getrieben wurden, die Gedanken bestimmtere Formen an. Wohl ringt in ihnen noch ein utopistisches Hoffen, eine unabgeklärte Gesamtauffassung mit den harten Thatsachen der wirklichen Außenwelt. Aber ihr Streben geht doch auf näherliegende, eher erreichbare Ziele. Sie stecken sich ihr Gebiet schärfer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_362.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)