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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Bilder fern entlegener Zeit stiegen inmitten dieser einsamen, majestätischen Waldwildniß empor, im Sausen des Windes, im Aechzen der Bäume, im Brausen der Wogen glaubte ich den Sterbegesang jener drei von dem Dichter verherrlichten Indianer zu vernehmen, die auf schwankem Kanoe den Katarakt hinunterfuhren und freiwilligen Tod der Knechtschaft vorzogen.

Mit diesem Bilde im Herzen schieden wir vom Niagara, für immer aber wird die Sehnsucht in uns bleiben, aufs neue seinem Donner zu lauschen und uns in seine Wunder zu vertiefen. –

Von Buffalo aus folgt die nach Chicago führende „Michigan Central Bahn“ zunächst dem Rande des Eriesees, um dann den Staat Michigan und die nordwestliche Ecke von Indiana zu durchqueren. Unserem Ziele, der Hauptstadt von Illinois, sind wir nunmehr nahe.

Wieder drängen sich geschichtliche Erinnerungen mit Macht in den Vordergrund und haften an der Person eines französischen Abenteurers, welcher im letzten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts diese Länder durchzog und nichts Geringeres im Sinne hatte als die Gründung eines gewaltigen französischen Kolonialreiches, das sich von den Quellen des Mississippi bis zum Golf von Mexiko, von den Alleghanies bis zu den Felsengebirgen erstrecken sollte.

Kaum jemals war ein Mann zu solch großem Vorhaben mehr geeignet als dieser im Jahre 1643 zu Rouen geborene Robert Cavelier Sieur de la Salle, aber kaum jemals wurde ein mit gleich kühnem Geiste, mit gleichem Muth und Scharfblick, mit gleicher Entschlossenheit und beispielloser Ausdauer begabter Held so hartnäckig von Mißgeschick verfolgt wie dieser. Die Geschichte seiner sich über einen Zeitraum von vierzehn Jahren erstreckenden Wanderzüge im Gebiete der Großen Seen und des Mississippi sichert ihm unter den Pionieren des amerikanischen Westens unstreitig einen der ersten Plätze und wer weiß, wie heute die politischen Verhältnisse Nordamerikas beschaffen wären, hätte nicht eine tückische, von den eigenen Leuten entsandte Kugel den Plänen des kühnen Unternehmers ein vorschnelles Ende bereitet.

Das von La Salle begründete Vicekönigthum Louisiana überdauerte seinen Schöpfer nur kurze Zeit. Die Geschichte hatte andere Wandlungen im Sinne. Wie die auf dem Boden der heutigen Union gegründeten Kolonialreiche der Spanier, Holländer, Schweden und Engländer vergehen mußten, so mußte auch das großartig geplante Kolonialreich der Franzosen, Louisiana, zusammenbrechen, damit aus den Ruinen dieser Reiche jene machtvolle Republik emporblühen konnte, die für Millionen von Menschen eine neue glückliche Heimath geworden ist.

In der Ferne werden jetzt die Thürme, die Häuserkolosse von Chicago sichtbar, noch eine kurze Weile, und der Zug fährt schnaubend durch die Straßen der Riesenstadt, um unweit jener historischen Stelle zu halten, wo im Jahre 1803 jenes kleine Fort „Dearborn“ errichtet wurde, das den Keim zu der heutigen Weltstadt bildete. Von den Indianern niedergebrannt, später aber wieder aufgebaut, hatte die junge Ortschaft Chicago noch im Jahre 1831 jenes bescheidene Aussehen, wie unsere Schlußvignette es bietet. Dann aber, als Chicago der Mittelpunkt eines ausgedehnten Handels wurde, begann es sich auszudehnen, und während des letzten Menschenalters wuchs es zu jener Wunderstadt empor, deren fabelhafte Entwicklung einem Romane gleicht. 1833 nur 550 Einwohner zählend, beherbergt Chicago deren jetzt über 11/4 Millionen; früher ein armseliges Nest, das in wenigen Minuten umschritten werden konnte, nimmt es jetzt eine Oberfläche von 182 englischen Quadratmeilen ein; vor 50 Jahren fast gänzlich unbekannt, ist Chicago heute eine der meistgenannten Städte; und wohl der glänzendste Beweis für die selbst in der Geschichte des amerikanischen Westens ohnegleichen dastehende Leistungsfähigkeit seiner Bevölkerung ist es, daß Chicago, dies verhältnißmäßig so junge Gemeinwesen, es wagen durfte, die größte aller bisherigen Weltausstellungen ins Leben zu rufen und die gesamten Völker des Erdballs bei sich zu Gaste zu laden.


Chicago im Jahre 1831.




Freie Bahn!
Roman von E. Werner.
(20. Fortsetzung.)


„Wo ist Frau Dernburg und Fräulein Maja? Sie sind doch hoffentlich im Park und im Schutze des Hauses geblieben?“ Mit dieser hastigen Frage trat Doktor Hagenbach in den Salon, wo sich augenblicklich nur Fräulein Friedberg befand.

„Die Damen wollten zum Grabe des jungen Herrn, so viel ich weiß,“ antwortete sie erschrocken. „Es ist doch nichts vorgefallen?“

„Noch nicht, aber man kann nicht wissen, was die nächste Stunde bringt. Also zur Grabstätte sind die Damen gegangen? Nun, die liegt am Ende des Parkes, in entgegengesetzter Richtung von den Werken, da ist hoffentlich nichts zu fürchten. Es wäre aber doch gut, wenn sie bald zurückkämen.“

„Ich erwarte sie jede Minute – steht es denn so bedrohlich drüben auf den Werken?“

Hagenbach nickte und nahm dem Fräulein gegenüber Platz. „Leider! Die Beamten thun alles mögliche, damit die Ablohnung und Entlassung der Arbeiter sich in Ruhe und Ordnung vollziehe, allein das paßt dem Fallner und seinem Anhang nicht; die wollen um jeden Preis Lärm haben. Ein Theil der Leute hat die Absicht kundgegeben, morgen weiter zu arbeiten, die anderen haben das mit Drohungen und Schimpfereien beantwortet, schließlich ist es hier und da zu Thätlichkeiten gekommen – es scheint schon heut’ abend losbrechen zu wollen.“

Leonie faltete mit angstvoller Miene die Hände. „Mein Gott, was wird daraus werden! Herr Dernburg ist hart und unzugänglich wie Stein. Sie ahnen nicht, in welcher Stimmung er ist! Er wird allem Trotz bieten – ich schwebe in Todesangst!“

„Nun, das brauchen Sie nicht, wofür bin ich denn da?“ sagte Hagenbach mit Nachdruck. „Ich würde Sie nöthigenfalls

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_351.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)