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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Klosterbrüdern zu berichten. Darum aber ist die geschichtliche Vergangenheit des Hudson nicht minder reizvoll und bedeutend.

War es doch dieser selbe Strom, welchen im Jahre 1609 der im Dienst der Niederländisch Ostindischen Compagnie stehende berühmte englische Seefahrer Henry Hudson hinauffuhr, der mit seinem kleinen Schiffchen „Halbmond“ unter mancherlei Abenteuern bis an den Fuß der Catskill Gebirge vordrang und durch seine Berichte über das herrliche Land und den großartigen Fluß den Unternehmungsgeist seiner Reeder so zu entflammen wußte, daß sie zur Gründung eines Kolonialreiches, Neu-Niederland, schritten. Auf „Manhattan Island“, welches sie für die Summe von 24 spanischen Thalern (etwa 100 Mark) von den Rothhäuten erwarben, erbauten sie das Fort Neu-Amsterdam.

Leider sollten die strebsamen Niederländer sich ihres Besitzes nicht lange erfreuen, denn die englischen Kolonisten, welche sich in Neu-England und in Maryland festgesetzt hatten, drangen Schritt für Schritt gegen den Hudson vor, nahmen zunächst das Thal des Connecticut, dann Long Island ein; und wenn auch die biederen Holländer wider diesen Einbruch in ihr Gebiet Verwahrung einlegten, so vermochten sie auf die Dauer dem mächtigen Druck der von beiden Seiten vordringenden Briten doch nicht zu widerstehen. Mit der Eroberung von Neu-Amsterdam im Jahre 1664 gingen sie ihres Besitzthums verlustig, dessen Name von den Engländern in New-York umgewandelt wurde.

Auch aus jenen großen Zeiten, wo das Geläute der Sturmglocken die Bewohner der 13 Kolonien zum Kampfe um die Freiheit rief, welche ihnen durch die Gewaltherrschaft des alten Mutterlandes verkümmert zu werden drohte, giebt es der Erinnerungen am Hudson noch viele. Da findet man Ruinen gewaltiger Forts, die auf den Höhen einzelner Berge oder in tiefem Waldesdunkel verborgen liegen; das scharlachrothe Laub des Sumach, dessen Büsche sich über die mächtigen, moosüberwucherten Quadern neigen, mag den Amerikaner gar oft an das Blut erinnern, welches seine Vorfahren im Kampfe für ihre Unabhängigkeit vergossen haben.

Bei Albany, der politischen Hauptstadt des Staates New-York, verläßt die Eisenbahn den Hudson, um in das liebliche Thal des Mohawk einzutreten. In breiten Windungen durcheilt dieser Fluß die ehemaligen Jagdgründe der von Cooper verherrlichten Mohawk-Indianer, eines dem großen Irokesenbunde angehörenden Stammes, gegen welchen die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts hier ansässigen Hessen und Pfälzer schwere Kämpfe auszufechten hatten. Nun ist das Kriegsbeil lange schon begraben, die Hochfluth der europäischen Einwanderung, welche sich auch über dieses Thal ergoß, hat die rothen Urbewohner hinweggeschwemmt und nichts ist von ihnen übrig geblieben als einige der wohlklingenden Namen, mit denen sie die Berge, die Ströme und Seen ihrer Heimath bezeichneten.

Mit Befremden vernimmt der Europäer neben diesen indianischen Namen auch solche, welche ihn an die ältesten Kulturstätten der Menschheit erinnern: „Ilion“, „Utika“, „Troy“ (Troja), „Syrakuse“, „Memphis“, „Niniveh“, „Palmyra“, „Carthago“ etc.; es ist, als hätten sich die sämtlichen Städte des Alterthums auf diesem Boden ein Stelldichein gegeben. Selbstverständlich sind all diese Ortschaften, die ihre stolzen Namen der Laune einiger klassisch angehauchten Städtegründer verdanken, blutjunge Städte, nur wenig älter als das gleichfalls am Mohawk auf den Vorbergen der Adirondacks gelegene „Dolgeville“, das seinen Namen einem wackeren Deutschen, dem im Revolutionsjahr 1848 in Chemnitz geborenen Alfred Dolge, verdankt. In seinem äußeren Anblick unterscheidet sich dies liebliche Bergstädtchen durch nichts von vielen tausend ähnlichen Ansiedlungen, aber trotzdem wird sein und seines Begründers Name in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit dereinst mit Ehren genannt werden müssen. Die der Wohlfahrt der Arbeiterschaft gewidmeten Einrichtungen, welche durch Alfred Dolge hier ins Leben gerufen worden sind und sich praktisch aufs glänzendste bewährt haben, sind von ganz hervorragender Bedeutung.

Wir deutschen Journalisten und Künstler fanden in dem lieblichen, von Wäldern und Wasserfällen umrauschten Bergstädtchen die herzlichste Aufnahme; die deutschen Lieder und Reden, die bei deutschem Bier im dortigen Turnverein erklangen, ließen uns gar zu leicht vergessen, daß wir fern, fern der Heimath seien.

Nach eintägigem Verweilen ging es weiter gen Westen, und es war bereits Mitternacht, als sich mit dem Rasseln der Dampfwagen ein fernher kommendes Brausen mischte, als fahre ein mächtiger Windstoß über die Höhen und wühle in den Kronen der Bäume. Bald stärker, bald schwächer, je nachdem der Wind die Wellen herübertrug, scholl das tiefe Brausen durch die dunkle Nacht, und als bald darauf der Ruf „Niagara Falls“ die Mitreisenden elektrisierte, bestrebte sich ein jeder, so schnell wie möglich den dumpfen Wagen zu verlassen.

Mit Ungeduld sehnten wir den Tag herbei, doch als wir in der Morgenfrühe erwachten, hatte die Witterung vollständig umgeschlagen. Regenschwere Wolken zogen vom Eriesee herüber, verfingen sich in den Föhren und mischten sich mit den weißen Nebelschleiern, die gespensterhaft aus der tiefen Felsschlucht emporstiegen, in welche der Niagara, der Abfluß des Ecie- in den Ontariosee, herniederprallt.

Trotz des beginnenden Regens trat ich in Begleitung meines Herrn Kollegen von der „Kölnischen Zeitung“ die Wanderung nach den Fällen an, zunächst nach jenem weltbekannten Punkte, den ich meinen verehrten Lesern im Bilde vorgeführt habe.

Wer vermöchte es, dies überwältigende Schauspiel, dies rasende Vorwärtsstürzen eines entfesselten Elementes zu schildern, dies Chaos wild dahinstürmender Wogen, die, wie von der eigenen Wuth berauscht, dem Abgrund entgegentosen, als wollten sie Himmel und Erde mit sich in ihren Untergang reißen. Was hilft es ferner, wenn wir versuchen wollen, durch Mittheilung von Zahlen dem Leser die Größe der Wassermassen anschaulich zu machen, wenn wir ihm eröffnen, daß nach Berechnung englischer Gelehrten allstündlich gegen 100 Millionen Tonnen[1] Wassers über den Absturz schießen, was hilft ferner die Angabe, daß die Höhe der Fälle 154 Fuß und ihre Gesamtbreite fast eine englische Meile betrage? Mehr als ein bedeutender Schriftsteller hat, vor dem Niagara stehend, seinen Bankerott, seine Unfähigkeit erklärt, ein der Großartigkeit der Fälle auch nur annähernd entsprechendes Bild zu liefern, und so möge man eben selber kommen, um in schweigendem Staunen vor den Offenbarungen dieses Weltwunders zu vergehen. –

Ungeachtet der immer häßlicher werdenden Witterung setzten wir unsere Wanderung fort, überschritten den schwanken Steg, den die Kunst des Deutsch-Amerikaners Johannes Röbling vom amerikanischen Ufer über den brausenden Strom hinweg zum kanadischen Ufer gespannt hat, warfen einen Blick auf die Fälle von jener Seite aus, besuchten dann die den Niagara in zwei ungleiche Hälften theilende Ziegeninsel und kletterten hier bis zu jenem Pnnkt hinab, wo halsbrecherisch angelegte Stege es ermöglichen, bis unter den westlichen, den sogenannten „American Fall“, zu gelangen. Zur Sommerzeit, wenn die schlüpfrigen Stege nicht mehr mit Eismassen bedeckt sind, wagen es einzelne, mit kolossalen Filzpantoffeln und Gummianzügen ausgerüstete Abenteurer, in die Geheimnisse dieser Wasserwelt einzudringen. Es ist ein schmaler Arm des Falles, der sich hier so heftig über die Klippen schnellt, daß zwischen diesen und den stürzenden Fluthen ein schmaler freier Raum bleibt, die berühmte „Cave of the winds“, „die Höhle des Windes“.

Aus früheren Jahren stehen mir die ungeheuren, viele Fuß dicken Wassersäulen, die unablässig aus der Höhe herniederbrausen und ein Getöse verursachen, als seien Hunderte von mächtigen Dampfhämmern neben, unter und über uns in rasendster Thätigkeit, noch in lebhafter Erinnerung. Noch fühle ich im Geist den unsäglichen Druck auf Lunge, Ohren und Gehirn, noch sehe ich den grünlichen Dämmerschein, in dem wir über schleimüberzogene und unter der furchtbaren Erschütterung bebende Planken von Klippe zu Klippe tappten, und mit derselben Freude wie damals begrüße ich, nachdem die tolle Irrfahrt durch dies Bacchanal beendet, das hellleuchtende rosige Licht.

Von der Höhle des Windes gelangten wir weiter bis zu jenem Punkt, wo der größere, westliche Arm des Niagarafalles ein ungeheures Hufeisen, die sogenannten „Horseshoe Falls“, beschreibt. Später besuchten wir während des tollsten Unwetters drei kleine Felsenriffe, die „drei Schwestern“, welche am Südwestende der Ziegeninsel liegen und durch schmale Brücken mit ihr verbunden sind.

Welch eine eigenartig wilde, tief ergreifende Landschaft! Altersgrauer Urwald, aus dunklen Cypressen und wetterzerzausten Föhren bestehend, bedeckt die Inselchen, deren Gestein unter dem heftigen Anprall der Wogen erzittert. An die nackten Stämme klatschte der strömende Regen, die Aeste und Zweige wanden und neigten sich wie in wahnsinniger Angst, als seien sie bestrebt, sich den rauhen Griffen des Sturmes zu entziehen, der in mächtigen Stößen über die wirbelnden Fluthen fuhr.

  1. 1 Kubikmeter = 1000 Kilogramm = 1 Tonne.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_350.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)