Seite:Die Gartenlaube (1893) 348.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Warum? Wer weiß es? War es ihm überhaupt Ernst mit seinem angeblichen Vorhaben gewesen? Er mußte doch ganz genau wissen, daß er sich eben nicht rechtfertigen konnte!

Mein Großvater hoffte stets, daß Tinius auf seinem Sterbebette ein offenes Schuldbekenntniß ihm gegenüber ablegen würde, indessen es kam nicht so weit. Ausgefragt hat mein Großvater ihn niemals, auch nach andern Dingen nicht, die allen Dorfbewohnern räthselhaft waren.

So wußte z. B. niemand, woher der alte Magister das Geld bezog, um seinen kleinen Haushalt, der doch immerhin mit Miethe, Kleidung und andern Nebenausgaben gegen fünfzig Thaler jährlich betragen mochte, zu bestreiten. Zweimal im Jahre begab sich Tinius zu Fuß nach dem fünf Meilen von Graebendorf entfernten Berlin, um seine Gelder zu erheben. Er behauptete stets, daß ihm von der großen Loge der Freimaurer eine gewisse Summe als lebenslängliche Unterstützung ausgesetzt worden sei, da er selbst Freimaurer gewesen und es auch noch sei. Die Unwahrheit dieser Behauptung liegt auf der Hand. Einmal konnte der Magister als Geistlicher gar nicht der Loge angehört haben; und dann ist auch nicht anzunehmen, daß der Orden ein wegen Mordes zu langjähriger Zuchthausstrafe verurtheiltes Mitglied unter sich geduldet oder ihm gar eine bestimmte Jahresrente gewährt haben sollte. Höchst wahrscheinlich wird es sich hier um die Unterstützungsgelder gehandelt haben, die ihm von seiner früheren Gemeinde Poserna bei Weißenfels ausgeworfen waren. Durch Ueberweisung kamen sie dann bei irgend einer Kasse in Berlin zur Auszahlung.

Auf diesen eintägigen Abstechern kehrte Tinius gewöhnlich bei der ältesten verheiratheten Tochter meines Großvaters in der alten Jakobstraße ein. Wenn er ankam, war er in der Regel – wie ganz erklärlich – stark erschöpft, aber er erholte sich nach einer kurzen Ruhe sehr schnell, und niemals haben die Anstrengungen der neun- bis zehnstündigen Fußtour seiner Gesundheit geschadet. Dieser meiner ältesten Tante – sie ist als eine hohe Siebzigerin gestorben – hat Tinius wiederholt mittelbar seine Schuld eingestanden.

Meine Tante war damals Mutter von zwei kleinen Knaben im Alter von sechs bis acht Jahren. Natürlich besaß sie wie alle Mütter den Ehrgeiz, daß aus diesen echten Berliner Rangen etwas Großes werden möchte. Sie äußerte daher oftmals ihrem Besucher gegenüber den Wunsch: „Wenn meine Jungens bloß halb so klug werden wollten, wie Sie es sind, Herr Magister!“

Tinius winkte dann ab: „Wünschen Sie das nicht, liebe Frau! Das war gerade mein Unglück, daß ich so klug war und immer noch mehr wissen und immer klüger werden wollte! Es wäre mir besser gewesen, man hätte mich als Hütejungen bei meinen Schafen gelassen; so wäre ich wie mein Vater ein ehrlicher Schäfer geworden!“

Diese und ähnliche Redensarten, die Tinius meinen Verwandten gegenüber gethan hat, schließen zweifellos ein volles Sündenbekenntniß in sich.

Am nächsten Tage trat er – es mochte noch so schlechtes Wetter sein – regelmäßig beim ersten Tagesgrauen den Rückweg an. Er trug nicht die geringste Schutzwaffe, nicht einmal einen Stock bei sich. Wenn man ihn fragte, ob er sich nicht fürchte, mit einem vollen Geldbeutel in der Tasche gänzlich wehrlos und schutzlos meilenweit über Land und durch den einsamen Forst zu gehen, so schüttelte er stets den Kopf und wiederholte ernst, aber ohne Salbung, die Worte des dreiundzwanzigsten Psalms: „Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln! Er führt mich auf rechter Straße, um seines Namens willen! Und ob ich schon wanderte im finstern Thal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir; Dein Stecken und Stab trösten mich.“

Welch ein wunderbares Ding ist doch das Menschenherz! Wie viel widersprechende Gefühle können in einem so kleinen Raum dicht bei einander wohnen! . . . Dieser Mann, der sich eine besondere Liste von reichen Personen angelegt hatte, um sie, nach einem sorgfältig ausgeklügelten Plane, zu beschleichen wie der Jäger das Wild des Waldes – dieser selbe Mann vertraute allein auf seinen Herrgott, daß er ihn sicher vor Räuber- und Mörderhänden auf allen Wegen geleiten würde!

Aber als Tinius den Weg durch das dunkle Thal des Todes antreten sollte, hat er doch gezittert!

Es war am Montag in der vierten Woche des Monats September im Jahre 1846 An diesem Tage war Tinius zum letzten Male in seinem Leben bei meinem Großvater zu Tische. Zufällig war Besuch aus Berlin da, zwei Damen, die mit sehr gemischten Empfindungen auf ihren seltsamen Tischgenossen hinschauten.

Der Magister sprach fast gar nicht, aß, trotz wiederholter Aufforderung, nichts und brütete stumm vor sich hin. Auf die Frage meines Großvaters erklärte er, er fühle sich nicht wohl. Nach Beendigung der Mahlzeit empfahl er sich.

Als er am nächsten Tage nicht erschien, wurde meine inzwischen zu einer siebzehnjährigen Jungfrau herangewachsene Tante beauftragt, einen Korb mit Essen einzupacken und ihn dem erkrankten Magister in seine Wohnung zu bringen. Meine Tante kam dieser Weisung nach, übergab den gepackten Korb einer jungen Magd vom Pfarrhofe und machte sich mit ihr auf den Weg. Als ihnen auf ihr Klopfen an der Stubenthür des Magisters niemand öffnete, klinkten sie auf und traten ein. Ein unheimlicher Anblick bot sich ihnen dar. In der Mitte der Stube stand Tinius, starrte mit verstörtem verzerrten Gesichte in die Luft und murmelte allerhand unverständliche Worte vor sich hin. Er zitterte am ganzen Leibe wie Espenlaub. Auf wiederholtes Ansprechen kam er wieder so weit zu sich, daß er den Besuch erkannte. Er wandte sich ab und stöhnte: „Sehen Sie mich nicht an, Fräulein, sehen Sie mich nicht an! An mir ist nichts Gutes; weder außen, noch innen! Es ist alles schlecht, alles . . . alles.“ Dabei taumelte er. Meine Tante schob ihm schnell einen Stuhl unter, auf welchem er buchstäblich in sich zusammenbrach.

Den beiden jungen Mädchen wurde bei dieser höchst seltsamen, erschütternden Scene angst und bange; sie stellten den Korb hin und machten, daß sie davonkamen.

Am nächsten Tage begab sich mein Großvater in die Wohnung des Magisters. Er bekam ihn aber nicht mehr zu sehen. Tinius hatte sich in sein Schlafkämmerchen zurückgezogen, dasselbe von innen verriegelt und sich ins Bett gelegt. Er antwortete aber auf die an ihn durch die Thür gestellten Fragen, es ginge ihm immer noch schlecht, aber doch ein wenig besser als gestern.

Dann entfernte sich mein Großvater, der immer noch an der Hoffnung festhielt, Tinius würde ein offenes Sündenbekenntniß ablegen.

Als am Tage darauf die Wirthsleute von der Feldarbeit heimkehrten, fanden sie den Magister, vollständig angekleidet, mitten in der Wohnstube auf der Erde liegend – tot! Auf seinem Gesichte sowie an seinem Leibe sollen zahlreiche blaue Flecken sichtbar gewesen sein, so daß das ganze Dorf behauptete, Tinius habe sich vergiftet Man machte aber weiter kein Aufhebens davon, holte keinen Arzt zur Obduktion des Leichnams, sondern sargte diesen einfach ein.

Mein Großvater hat sich die Leiche nicht angesehen. Er glaubte nicht an das Gerücht von dem Selbstmord, und auch ich bin der Ansicht, daß die Annahme einer Vergiftung unhaltbar ist.

Als Tinius aufgefunden wurde, war er schon mehrere Stunden tot. Daß sich an ihm einige Flecken, die sogenannten „Totenmale“, vorfanden, ist ganz natürlich. Da er aber ein Mensch mit einer blutigen Vergangenheit war, so durfte er, nach der Ansicht der Dorfbewohner, auch keines natürlichen Todes gestorben sein. Deshalb fand man für die blauen Flecken, deren Anzahl durch die geschäftigen zungenfertigen Dorfweiber im Handumdrehen verdoppelt und verdreifacht wurde, nur die Erklärung: aus Gewissensbissen und weil er fürchtete, in der letzten Stunde schwach zu werden und ein Bekenntniß abzulegen, hat der Magister sich selber schnell vergiftet! . . .

Ich möchte beinahe genau das Gegentheil annehmen.

Unzweifelhaft war Tinius vor seinem Ende von den stärksten Gewissensbissen gefoltert. Als sie unerträglich wurden, sprang er auf, zog sich an, um zu dem Geistlichen zu eilen, dessen Milde und Güte er jahrelang kennengelernt hatte. Er wollte von ihm die Gnadenmittel der Kirche empfangen, an deren heilsame, versöhnende Wirkung er thatsächlich fest glaubte.

Es war zu spät! Ohne mit sich, mit der Welt, mit seinem Gott sich ausgesöhnt zu haben, stand er plötzlich vor dem höchsten Richterstuhle.

Mein Großvater hat ihn, wie jedes andere Mitglied seiner Gemeinde, christlich zur Ruhe bestattet. Niemand erhob Einspruch dagegen, daß das Grab mitten unter den andern aufgeworfen wurde. Von dem Makel des Selbstmordes war Tinius hierdurch offiziell gereinigt.

Er hat alle seine dunklen blutigen Geheimnisse mit sich ins Grab genommen. Kein Mensch hat jemals nach ihm gefragt. Weder Angehörige, noch eine Behörde wandte sich an meinen Großvater um Ausstellung eines Totenscheins. Er war für die Welt längst gestorben!




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_348.jpg&oldid=- (Version vom 18.2.2021)