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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

vorwies und die Annahme von dem zufälligen Vorhandensein des Buches in diesem Hause damit hinfällig machte.

„Die ganze Sippschaft hat von jeher zu verderblicher Absonderung von der Kirche geneigt,“ murmelte Dekan Zindler, der bei weitem weniger gemessene der beiden hochwürdigen Herren, mit Ingrimm. „Dies“ – er deutete mit dem starken Zeigefinger auf die zarten Züge jener lange entschwundenen Hand – „dies ist die Mutter der Polyxene gewesen. Sie ist in jungen Jahren an einer zehrenden Krankheit gestorben. Hätte sie länger gelebt, wer weiß, was sie noch für Aergerniß gegeben hätte. Aber wie dünkt Euch“ – ein scharfer Strahl des Argwohns brach dabei aus seinen Augen – „wären wir etwa vergebens gekommen?“

Es gab für die Worte nur eine Deutung: Dekan Zindler fürchtete, das Mädchen könne, in Furcht versetzt durch die Meldung der Alten von diesem Besuche, den Garten hinten gewonnen und die Flucht ergriffen haben. Ach, wie weit entfernt war die Annahme des klugen geistlichen Herrn von der Wahrheit! Allerdings hatte Frau Crescenz ihr Fräulein weit hinten im alten Mühlgarten suchen müssen. An diesen traurigen Ort, vor dem es ihr doch grauste, zog es Polyxene stets von neuem hin. Da stand sie, in kummervolle Gedanken verloren, am Rande des Mühlgrabens. Und immer und immer wieder sträubte sich dann ihr Verstand und alles in ihr gegen die Annahme, Lutz, der kräftige, behende, sei da so elend zu Tode gekommen. Aber was dablieb, unumstößlich, das war die Thatsache ihres Verlustes. Sie hatte ihn doch nicht mehr, den lieben Jungen, an dem ihre ganze Seele gehangen hatte. Ihre Augen hungerten danach, sich einmal wieder auszuruhen auf dem sonnigen Knabengesicht; das Ohr horchte nach seiner hellen tapferen Stimme hin und lauschte zuletzt Trugklängen, im Innern erzeugt, die sie äfften mit dem Tone seines lieben Mundes. Während sie so dastand, wartend, horchend, sie wußte selber nicht auf was, wie das jetzt ihre Gewohnheit war, da erschien unter dem offenen Durchgang der quer vorgebauten Scheuer die alte Crescenz. Sie hatte etwas zu sagen; eifrige Worte schienen ihr schon von weitem auf den Lippen zu zittern. Sie hatte etwas gehört, von Lutz vielleicht! Polyxenen klopfte das Herz bis in den Hals. Und es war eine der vielen bittern Enttäuschungen, die sie jetzt hatte, als sie erfuhr, was die alte Frau zu melden kam. Denn von den geistlichen Herren erwartete sie keine Nachricht, die ihr wirklichen Antheil hätte abgewinnen können – eine solche nämlich, die den Vetter Ludwig betroffen hätte. Was die Herren sonst von ihr wollen könnten, dafür hatte sie, als sie jetzt der Crescenz ins Hans folgte, auch nicht einen Gedanken.

Der Dekan Zindler hatte eben jene Befürchtung angedeutet, das scheue Vöglein möchte entschlüpft sein, da ließ ein Geräusch auf dem Flur die beiden Geistlichen aufhorchen. Nun rückte der eine, der Herr Dekan, sich in seiner Amtstracht zurecht und richtete sich würdevoll in die Höhe. – Sein Begleiter legte das Buch genau wieder auf den Platz, auf dem es gelegen hatte, und stellte sich neben jenen, und so hatte das eben eintretende Fräulein den erbaulichen Anblick, die beiden frommen Männer mit gesammelten Mienen und einem von allem Aeußeren abgekehrten Blick ihrer wartend zu finden.

Ihr eignes reizendes Gesicht wies ein leises Befremden auf. „Hierher hat man die hochwürdigen Herren geführt?“ sagte sie nach ehrfurchtsvollem Gruße, „Das sollte nicht sein. Darf ich bitten, mir in den Saal zu folgen? Und mögen die Herren das Versehen der alten Dienerin verzeihen!“

Charakteristisch für die beiden geistlichen Herren war der kleine Zug, daß sie die Frau Crescenz jetzt mit keinem Worte bei ihrer Herrin entlasteten von dem unverdienten Vorwurf. Sie hatten aber auch anderes zu thun. Erst nachdem der Pater Gollermann sich davon überzeugt hatte, wie Polyxene in voller Unbefangenheit über den Flur voranschritt ohne noch einen einzigen Blick zurück in ihr Schlafgemach, erst da hielt er sich versichert, daß man ihr ruhig folgen könne und nicht befürchten müsse, sie werde jetzt heimlich aus dem Zimmer etwas wegräumen lassen, was sie verbergen wolle. Nun glitt zuguterletzt, mit einer Behendigkeit, die man seinem würdevollen Gange kaum zugetraut hätte, der hochwürdige Herr, der Pater Gollermann, selber noch einmal in das Gemach zurück, ergriff das Buch und ließ es in die Falten seines Amtsrockes gleiten, wo sich irgendwo eine beträchtlich große Tasche befinden mußte. Mit ein paar großen Schritten hatte er dann die anderen rasch wieder eingeholt.




12.

In einfacher Würde hatte Polyxene ihre Gäste in dem Saale mit den Wappen sitzen geheißen und dann sich erboten, den Oheim zu rufen, was aber von den geistlichen Herren einstweilen noch höflich abgelehnt wurde. Es dauerte lange, bis in der Unterhaltung, in welcher besonders Pater Gollermann sich nun mit ihr erging, ihre stolze Ahnungslosigkeit einem anderen Gefühl, einem dumpfen Unbehagen zunächst, zu weichen begann. Nachdem sie sich anfangs im stillen über den Besuch der beiden Geistlichen ein wenig gewundert und leichthin gedacht hatte, was wohl deren Zweck sein möge, konnte sie nicht umhin, nach und nach mit halb ungläubigem Staunen eines solchen inne zu werden. Ihr galt es wirklich und ihr allein! Zuerst hatte sie vermeint, die mancherlei Fragen, welche die beiden Herren ihr stellten, geschähen halb zufällig, dann aber kam es über sie, daß sie doch einen gewissen Zusammenhang in diesen Fragen zu merken glaubte. Und wie leicht hatte sie es den Herren gemacht! Sie hatte diesen Zusammenhang durch kein Ausweichen gehindert; sie hatte immer einfach der Wahrheit gemäß geantwortet. Wenn im Verlaufe der Unterredung ihre ehrlichen Augen mit etwas wie Bangigkeit auf ihre Befrager gerichtet gewesen waren, so war dies, während sie über alles, was ihr mit der siechen Frau Magdalena geschehen war, Red’ und Antwort gab. Nicht als ob sie für sich selber sich geängstigt hätte! Aber sie hegte die Befürchtung, es sei am Ende bei der Geistlichkeit darauf abgesehen, in heiligem Eifer die Ruhe der Sterbenden zu stören und ihr vielleicht die allerletzten Augenblicke quälend zu verdunkeln. Daß ihr selber aus ihren Besuchen in der Hütte am Galgenfeld irgend eine Gefahr sollte erwachsen können, ahnte sie so wenig, daß so viel thörichte Sicherheit den ungestümeren von den beiden Herren, den Herrn Dekan Zindler, endlich verdroß und er etwas scharf sagte: „Des Mitleids gegen die sündige Kreatur seid Ihr mehr eingedenk gewesen, Fräulein, als der Vorschriften unserer Kirche. Das Verbot derselben, mit Exkommunizierten irgend einen Verkehr zu pflegen, bei Gefahr, in denselben Stand zu verfallen – das scheint Ihr vergessen zu haben.“

Doch noch ehe Polyxene hatte antworten können, fiel Pater Gollermann mit milder Stimme ein: „Das Fräulein ist in geistlichen Dingen ohne Hüter und Berather gewesen, ihrer unerfahrenen Jugend zum Schaden –“

„Des geistlichen Beistandes, den ich, ihr von Gott gesetzter Seelsorger, hätte leisten können, hat sie leider nie begehrt.“ Das war wieder der Dekan Zindler, dessen Empfindlichkeit jetzt zu Tage trat darüber, daß die Leyens den Weg zu seiner Kirche, dem stattlichsten Gotteshaus der Residenz, im blühenden Barockstil erbaut, zu weit gefunden und den schlechten Geschmack besessen hatten, seiner berühmten, blühenden Kanzelberedsamkeit die altersschwachen Sermone des Pfarrers Wehrbein am Siechenhofskirchlein vorzuziehen. „Wüßte ich nicht,“ fuhr er jetzt fort, „durch unsern Herrn Amtsbruder an der Siechenhofskapelle, daß das Fräulein zuweilen dort gebeichtet und kommuniziert hat, so müßten wir mit tiefer Bekümmerniß annehmen, nicht nur sträfliche Lauheit, sondern eine völlige wohlbewußte Abkehr von den Gnadenmitteln unserer allerheiligsten Kirche sei hier vorhanden.“

Polyxene erröthete langsam unter diesen Worten, die sie trafen, wie einen stolzen und zugleich gerechten Sinn jeder Tadel treffen wird. Sie lehnte sich nicht von vornherein hochmüthig dagegen auf, denn sie war in ihrem Inneren noch nicht sicher, ob sie ihn nicht verdiene. Eine Ahnung eigentlicher Gefahr gewann sie aber auch jetzt noch nicht.

Und wieder begann nun Pater Gollermann. Seine Weise war im Gegensatz zu der seines Ordensbruders so milde, daß der Hörer dachte, aufathmen zu können. Fühlte aber Polyxene von Leyen jetzt diese Erleichterung, so sollte dieselbe von kurzer Dauer sein. „Ihr seid auf einen Irrweg gerathen, meine Tochter,“ sagte er. „Diejenigen, denen Euer zeitliches wie ewiges Wohl am Herzen liegt, müssen darauf bedacht sein, Euch beizuspringen, ehe es zu spät wird. Daß Ihr durch den Verkehr mit einer Exkommunizierten kirchlichen Strafen und harter Buße verfallen seid, werdet Ihr, wie ich nicht zweifle, in schuldiger Demuth vernehmen –“

Jetzt zum ersten Male gesellte sich dem ungläubigen Staunen, mit dem Polyxene die Worte vernahm, auch ein Zug der Angst. Gerade das Neue und Unbegreifliche dieser Sprache ließ sie erbangen. Kirchliche Strafen! War in dem lauen, nur auf äußerliche Gebräuche gerichteten religiösen Leben an diesem Hofe

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