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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


nun endlich Anstalt zu der verheißenen Erklärung. Er hob in reuevollem Tone an: „Leonie, höre mich!“

Sie stand noch immer an ihrem Platze, ohne sich zu regen, und sah ihn an, als könne und wolle sie es nicht glauben, daß diese behäbig spießbürgerliche Erscheinung und die Idealgestalt ihrer Jugend eine und dieselbe Person seien.

„Es bedarf keiner Erklärung,“ sagte sie mit einer Ruhe, die ihr selbst unbegreiflich vorkam. „Ich verlange nur, daß Sie mir einige Fragen beantworten. Sind Sie wirklich der Gatte jener Frau, die uns vorhin empfing, der Vater der Kinder, die drunten im Garten spielen?“

„Höchst vernünftig und praktisch!“ brummte beifällig der Doktor draußen. „Nichts von Weinkrämpfen! Die Sache läßt sich ganz gut an.“

Leonies Frage schien Herrn Willmann vollends niederzuschmettern. „Verdamme mich nicht, Leonie!“ bat er stammelnd. „Der Zwang der Verhältnisse – eine unglückliche Verkettung von Umständen –“

„Reden Sie mich nicht mit dem vertraulichen Tone von einst an, Herr Willmann,“ schnitt ihm Leonie das Wort ab. „Wie lange sind Sie verheirathet?“

Willmann zögerte, er hätte gern eine möglichst kurze Dauer seines Eheglückes angegeben, aber da draußen lärmte seine gesamte Nachkommenschaft, und sein Aeltester, ein zehnjähriger Bube, war auch dabei. „Elf Jahre,“ sagte er endlich leise.

„Und vor zwölf Jahren haben Sie mir geschrieben, daß Sie als Missionär in das Innere Afrikas gehen wollten, und seitdem blieben Ihre Briefe aus. Sie sind also wohl unmittelbar darauf nach Deutschland zurückgekehrt – ohne mir Nachricht zu geben?“

„Es geschah allein um Deinet – um Ihretwillen, Leonie,“ versicherte Engelbert mit einem Versuche, seiner Stimme einen zärtlichen Klang zu geben. „Wir waren beide arm, ich hatte keine Aussichten, es konnten Jahre vergehen, ehe ich imstande war, Ihnen meine Hand zu reichen. Sollte ich zugeben, daß Sie mir zulieb Ihre Jugend vertrauerten, ein anderes, vielleicht besseres Glück verscherzten? Niemals! Und da ich Ihre Großmuth kannte, da ich wußte, daß Sie nie Ihr Wort von mir zurückgefordert hätten, so that ich mit blutendem Herzen, was ich mußte – ich gab Ihnen die Freiheit zurück, durch meinen angeblichen Tod –“

„– und machte selbst schleunigst eine reiche Partie,“ ergänzte der Doktor draußen. „Der Mensch lügt das Blaue vom Himmel herunter! Gnade Dir Gott, Du sanfter Engelbert, wenn Du mir nachher unter die Hände geräthst!“

Der sanfte Engelbert schien indessen mit seiner aufopfernden Liebe und seinem blutenden Herzen gar keinen Eindruck auf die einstige Braut zu machen. „Geben Sie sich keine Mühe, ich lasse mich nicht mehr täuschen,“ erwiderte sie verächtlich. „Den Treubruch hätte ich Ihnen verziehen, diese erbärmliche Komödie hier verzeihe ich Ihnen nicht. Hätte ich geahnt, daß ich Ihnen zu arm, daß unsere Verlobung Ihnen eine Fessel war, ich hätte sofort den Ring zurückgesandt. Ein offenes ehrliches Wort hätte Ihnen all dies Lügen und Heucheln erspart und mir diese bittere Stunde.“ Jetzt zum ersten Male drohte das Schluchzen ihre Stimme zu ersticken, doch nur einen Augenblick lang, dann zwang sie es nieder und fuhr mit ausbrechender Empörung fort: „Und einen Menschen wie Sie habe ich geliebt! Um Ihretwillen habe ich meine Jugend verloren, um Ihres Andenkens willen die Hand eines ehrenwerthen Mannes zurückgewiesen!“

„Das wird ja ausgezeichnet,“ meinte Doktor Hagenbach an seiner Thürspalte und rieb sich vergnügt die Hände. „Na, die Sache kann ja wieder in Ordnung gebracht werden.“

„Leonie, Sie zerreißen mir das Herz!“ versicherte Herr Willmann, indem er beide Hände auf die Magengegend legte. „Wenn Sie wüßten, was ich litt – ich habe ja doch nur Sie allein geliebt!“ Er machte einen Versuch, sich ihr zu nähern, allein sie wich mit einem Ausdruck des Widerwillens zurück.

„Bitte, Herr Willmann, wir sind zu Ende und haben uns nichts mehr zu sagen. Ich fordere nur noch eins von Ihnen: wenn der Zufall uns wirklich noch einmal im Leben zusammenführen sollte, so kennen wir uns nicht und haben uns nie gekannt.“

Engelbert athmete bei dieser Erklärung verstohlen auf, er hatte nicht gehofft, so leichten Kaufes loszukommen, und schickte sich nun schleunigst zu einem würdevollen Abgang an. „Sie verurtheilen mich – ich muß es tragen!“ sagte er sanft und schmerzerfüllt. „Lebe wohl, Leonie, der Schein ist gegen mich, aber Du bist dennoch meine erste und einzige Liebe gewesen!“

Er warf noch einen wehmuthsvollen Blick auf seine einstige Braut und trat dann eilig den Rückzug an. Draußen aber ereilte ihn das Verhängniß in der Gestalt des Doktors Hagenbach, der ihn ohne weiteres am Arme packte. „Jetzt wollen wir ein paar Worte miteinander reden, Herr Engelbert Willmann,“ sagte er und schleppte den Erschrockenen rücksichtslos nach dem anderen Ende des Ganges, wo man außer Hörweite des Gastzimmers war. „Viel werde ich mich allerdings nicht mit Ihnen abgeben, aber sagen will ich es Ihnen denn doch, daß Sie ein Lump sind!“

„Herr Doktor – nicht so laut!“ flehte Willmann und schielte angstvoll nach der Treppe, wo jede Minute seine Frau oder irgend jemand anderes erscheinen konnte.

Aber Hagenbach kehrte sich nicht daran. „Ein ausgemachter Lump!“ wiederholte er. „Mir persönlich ist das zwar sehr angenehm, aber Sie bleiben doch, was Sie sind. Und solch einem Menschen weint man zwölf Jahre lang nach und umgiebt ihn mit einem förmlichen Heiligenschein. Er wird aufgehängt –“

„Um Gotteswillen!“ jammerte der Bedrohte, während der Doktor ingrimmig fortfuhr: „Aufgehängt mit einer Trauerschleife und einem Veilchenstrauß! Jetzt wird aber die Geschichte hoffentlich von der Wand genommen. Wie gesagt, Sie sind keinen Schuß Pulver werth!“ Dabei schüttelte er den Unglücklichen, dem er diese Artigkeiten sagte, mit einem Ingrimm, daß Herrn Willmann Hören und Sehen verging.

„Ich verstehe kein Wort,“ stöhnte dieser, der sich aus Furcht vor noch größerem Lärm nicht zu befreien wagte. „Haben Sie Mitleid, Herr Doktor, und schweigen Sie über die Sache! Wenn meine Frau es erfährt, meine Kundschaft, die Stadt – ich wäre ein geschlagener Mann.“

„Ja, das wäre allerdings etwas für die Stammtische im ‚Goldenen Lamm‘,“ sagte Hagenbach mit einem zornigen Auflachen, „diese Geschichte von dem verunglückten Heidenapostel und Wüstenmenschen! Um Ihretwillen schweige ich wahrhaftig nicht. Sie verdienen es, daß man Sie an den Pranger stellt, aber für Fräulein Friedberg wäre das eine peinliche Sache, also mag es verschwiegen bleiben! Und nun, Gott befohlen, Herr Engelbert, wir beide haben uns auch nichts mehr zu sagen!“

Er schüttelte den ganz vernichteten Willmann noch einmal gründlich, ließ ihn dann stehen und kehrte in das Zimmer zurück, wo seine ärztliche Hilfe jedenfalls nöthig war. Wenn Fräulein Friedberg sich auch bisher über Erwarten tapfer gezeigt hatte, jetzt mußten doch die unumgänglichen Ohnmachten und Weinkrämpfe eintreten! Aber nichts von alledem. Leonie kam ihm entgegen, sie war noch immer sehr bleich und man sah, daß sie heftig geweint hatte, allein sie behauptete auch jetzt ihre Haltung.

„Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht,“ sagte der Doktor mit einer gewissen Verlegenheit. „Ich fürchtete – ja, mein Fräulein, heute gestehe ich Ihnen ohne weiteres das Recht zu, ‚Nerven‘ zu haben – Sie sollen keinen Spott darüber hören.“

„Ich bin ganz wohl,“ versicherte Leonie, ohne den Blick zu erheben. „Ich habe freilich eine sehr schmerzliche Enttäuschung durchgemacht, Sie werden errathen, wie die Sache zusammenhängt, Herr Doktor – ersparen Sie mir die Beschämung, es Ihnen ausführlich erzählen zu müssen.“

„Sie brauchen sich gar nicht zu schämen!“ rief Hagenbach warm und herzlich. „Es ist doch keine Schande, an das Gute und Edle im Menschen fest und unverbrüchlich zu glauben. Und wenn Sie einer getäuscht hat, so brauchen Sie deshalb noch nicht den Glauben an alle zu verlieren. Es giebt noch manchen unter uns, der diesen Glauben verdient.“

„Ich weiß es,“ entgegnete Leonie leise und bot ihm die Hand. „Und ich will einer Erinnerung nicht nachweinen, die es nicht werth ist, daß man auch nur eine Thräne darum vergießt – mag sie begraben sein!“

„Bravo!“ rief der Doktor, indem er die dargebotene Hand ergriff und Miene machte, sie herzhaft zu schütteln. Aber auf einmal besann er sich und hielt inne. Die „rauhe Schale“ mußte doch schon einigermaßen gelockert sein, denn es geschah das Unerhörte – Herr Doktor Hagenbach beugte sich nieder und drückte einen äußerst zarten Kuß auf diese Hand.

(Fortsetzung folgt.)
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