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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

die Ansichten eines Hobbes über das Naturrecht noch die in dem „Code de la Nature“ von Morelly (1755) in abstrakten Gesetzesparagraphen ausgesprochenen „Naturwahrheiten“ waren imstande gewesen, irgend ein wirkliches, großes Menschengefüge zusammenzuschweißen und zusammenzuhalten, und es dürfte sehr schwer zu entscheiden sein, ob nicht der „Contrat social“, der „Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts“ von Jean Jacques Rousseau weit utopistischeren Inhalts sind als etwa dasjenige, was man aus der Erziehungspraxis der Jesuiten als Kanon herauslesen kann.

Hiermit werden wir aber hinübergeführt auf den Boden der Neuzeit, aus dem sowohl utopistische Ideen als praktische Versuche zu ihrer Verwirklichung zahlreich aufgesproßt sind.




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Wilhelm Heinrich Riehl.

Ein Gedenkblatt zu seinem siebzigsten Geburstag.

In unserer Zeit, wo die Trennung und Einseitigkeit auf allen Feldern menschlicher Arbeit sehr weit gediehen ist, erscheint es wohl erstaunlich, wenn ein Mann auf mehreren ziemlich entlegenen Gebieten gleichzeitig thätig auftritt; um so erstaunlicher, wenn die Ergebnisse dieser verschiedenen Thätigkeiten auch bei strengster Beurtheilung durchweg die Züge der Vollendung und der Meisterschaft aufweisen. Menschen mit engem Gesichtskreise sind sehr leicht zu der Behauptung geneigt, man müsse sich heutzutage auf Eines beschränken. Das gilt für Durchschnittsmenschen. Aber es sind nicht alle an diese Arbeitsregel gebunden; es giebt Naturen, die sich über dieselbe hinwegsetzen können. Diese auserlesenen Naturen erfrischen sich eben durch den Wechsel der Arbeit. Wo sie neben der Wissenschaft auch der Kunst dienen, erscheint ihnen nicht etwa das eine als Berufs- und das andere als Dilettanten-Arbeit, sondern sie nehmen die verschiedenen Seiten ihrer Thätigkeit ernst. Aber ihre künstlerische Weltanschauung gestattet ihnen, dasjenige, was sie auf wissenschaftlichem Gebiete leisten, zu verschönen, in elegantem Gewande zu bringen, dabei geistig frischer zu bleiben und in manches Grenzgebiet zwischen Wissenschaft und Kunst einzudringen, welches dem bloßen Gelehrten verschlossen bleibt. Und wo solche Männer dichterisch schaffend auftreten, da ist es die in anderen Zeiten von ihnen betriebene wissenschaftliche Thätigkeit, welche ihren dichterischen Werken jene Gründlichkeit und Gediegenheit, jenen Adel solider Geistesarbeit verleiht, welche die bloße Phantasie zwar nicht nothwendig verlieren muß, aber doch leicht verlieren kann.

Es muß eben immer begnadete Menschen geben, welche der Wahrheit und der Schönheit zugleich dienen, damit die Wahrheit und die Schönheit sich nicht fremd werden.

Einer dieser seltenen Menschen ist uns Wilhelm Heinrich Riehl, der in ungetrübter Geistesfrische und Schaffenskraft in diesen Tagen sein siebzigstes Lebensjahr vollendet. Geboren am 6. Mai 1823 in dem nassauischen Städtchen Biebrich, wandte er sich anfänglich dem Studium der Theologie zu, um bald zur Geschichte und Philosophie überzugehen. Der nothwendige Kampf ums Dasein warf ihn jedoch, obwohl er seiner ganzen Natur nach zum Universitätslehrer bestimmt war, zunächst in die journalistische Laufbahn.

Wie viele Menschen, selbst solche, die mit schönen Talenten begabt sind, in dieser Laufbahn von der Tagesarbeit tot gehetzt werden und zu Grunde gehen, ist bekannt. Riehl selber hat ja das wuchernde Litteratenthum in seiner „Bürgerlichen Gesellschaft“ genügend gezeichnet. Ihn aber konnten die journalistischen Wirbel nicht verschlingen, dazu war er von Hause aus zu stark und zu tüchtig angelegt. Von Frankfurt, wo er seit 1845 Mitredakteur der „Oberpostamtszeitung“ gewesen war, wandte er sich 1847 nach Karlsruhe als Mitarbeiter der „Karlsruher Zeitung“ und Herausgeber des „Badischen Landtagsboten“. Schon hier schrieb er Aufsätze von dauerndem Werthe, welche die Keime zu seinen späteren kulturgeschichtlichen Werken bildeten. Die politisch bewegte Zeit des Jahres 1848 verlebte er in Wiesbaden, wo er die „Nassauische allgemeine Zeitung“ gründete und redigierte. Hier, mitten in stürmischer Tagesarbeit, fand er doch noch Zeit zu den gründlichsten Studien über die Volksseele. Er studierte das Volk unmittelbar nach der Natur, indem er das Land durchwanderte, Volks- und Gemeindeversammlungen, Gerichts- und Landtagssitzungen besuchte. Im Frankfurter Parlament, wie von einzelnen seiner Biographen irrthümlich angegeben wird, saß er nicht; aber die aufgeregten Massen von Frankfurt, Mainz, Wiesbaden und Karlsruhe hat er genügend beobachtet, um sie meisterhaft schildern zu können.

Zu Anfang des Jahres 1851 folgte er einem Rufe an die hochangesehene „Allgemeine Zeitung“ nach Augsburg. Hier fand er wohlthätige ruhigere Tage in der stillen Stadt mit ihren lebendigen Erinnerungen an altreichsstädtisches Bürgerthum. Wie er in den hessischen Dörfern die Bauern, in den Rheinstädten die unteren Schichten der Arbeiterbevölkerung studiert hatte, machte er nunmehr seine Beobachtungen über den Adel und städtisches Bürgerthum. Die Frucht dieser Beobachtungen war sein berühmtestes Buch, die „Bürgerliche Gesellschaft“, heute noch mustergültig, obwohl es, wie Riehl selbst sagt, als Urkunde für den Geist einer vergangenen Zeit erscheint. Dieses Buch schildert das soziale Volksleben und verknüpft mit der Schilderung die Erörterung politischer Probleme.

Im Jahre 1853 ließ er ein verwandtes Werk folgen, „Land und Leute“, in welchem der Zusammenhang von Landschaftscharakter und Volksthum zur Untersuchung gelangt. Zahlreiche Erfahrungen, welche Riehl bei seinen Fußwanderungen durch deutsche Gaue gesammelt hatte, verarbeitete er in diesem Buche, um das organische Herauswachsen des Volksthums aus der Bodennatur nachzuweisen. Fast das nämliche Ziel verfolgt auch das später erschienene „Wanderbuch“. Zu den kulturgeschichtlichen Arbeiten Riehls gehört ferner die „Familie“ (1855), in welcher er jene Mächte schildert, welche die Begründung und den Zusammenhang der Familie im deutschen Volksleben beeinflussen, und daran schließt sich endlich noch „Die deutsche Arbeit“ als eine Summe von werthvollen Beobachtungen über das Erwerbsleben in Deutschland. Es ist dies kein nationalökonomisches Werk im landläufigen Sinne des Wortes, sondern ein Buch, welches über den Zusammenhang von Volkscharakter und Erwerbsleben Aufklärung giebt.

Während dieser fleißigen und fruchtbaren kulturgeschichtlichen Arbeiten hatte sich Riehls äußere Lebensstellung sehr zu ihrem Vortheil verändert. König Maximilian II. von Bayern, welcher damals eifrig bestrebt war, das geistige Leben seines Volkes zu heben und namentlich an der Universität München eine auserlesene Schar deutscher Gelehrter zu versammeln, hatte Riehl im Jahre 1853 als Professor nach München berufen. So vertauschte dieser das Redaktionsbureau mit einem Lehrstuhl der Kulturgeschichte und Sozialwissenschaft. Es war in den Jahren, als auch Männer wie Liebig, Sybel, Bodenstedt, Geibel, Heyse, Bluntschli, Carrière nach München gezogen wurden, als der König selbst an bestimmten Abenden einen Kreis von Gelehrten um sich versammelte, um mit ihnen Gedanken auszutauschen, sein Interesse an ihren Forschungen kundzugeben und selbst Arbeiten anzuregen. Aus einer Anregung des Königs erwuchs Riehls Buch „Die Pfälzer“; auch die „Bavaria“ ist hierher zu rechnen, eine umfangreiche geographisch-ethnographische Schilderung des bayerischen Staates, an welcher Riehl hervorragenden Antheil nahm.

Sein Lebensgang blieb nunmehr in dem ruhigen Fahrwasser des akademischen Lehrers. In Anerkennung seiner wissenschaftlichen Forschungen erwählte ihn die Bayerische Akademie der Wissenschaften zu ihrem Mitglied; der König verlieh ihm den persönlichen Adel; auch die Rektorswürde an der Ludwig-Maximilians-Universität hat er schon bekleidet. Seine hervorragende Gewandtheit in künstlerisch durchgearbeiteten freien Vorträgen ward Veranlassung, daß von den verschiedensten deutschen Städten aus die Aufforderung zu Vorträgen an ihn erging. Seine alte Freude, im Wandern zu lehren und zu lernen, ließ ihn diesen Einladungen folgen, und so bilden diese Wandervorträge seit einer Reihe von Jahren einen Theil seiner Thätigkeit. Unter den Gelehrten, welche in Deutschland durch derartige Vorträge geistige Anregungen im Volke verbreiten, ist Riehl unbestritten der erste.

Seine unermüdliche Arbeitsthätigkeit hatte es ihm ermöglicht, sich in München ein bescheidenes aber behagliches Heimwesen zu begründen, wo er im Kreise seiner Familie lediglich seinem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_300.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2020)